Life Behind Bars: Theater und radikale Zärtlichkeit im Gefängnis

Sing Sing (R. Greg Kwedar) bietet einen Blick hinter die Kulissen des Rehabilitations-Programms RTA, des US-amerikanischen Gefängnissystems und fokussiert sich dabei auch auf die Darstellung von Zärtlichkeit zwischen BIPOC-Männern.

© Polyfilm

“It’s a very conscious thing for me to show, to support, to amplify tenderness. Especially when it comes to the way we view Black and Brown men because the world is set up in a different way believing we are not tender.”
Colman Domingo

Genau diesen Fokus auf Zärtlichkeit in einem System, welches BIPOC (Black, Indigenous, and People of Color) Männern diese Eigenschaft nicht nur abspricht, sondern sie aktiv in rassistische Stereotypen drängt, verhandelt Sing Sing (R. Greg Kwedar). Die Männerstrafanstalt mit demselben Namen im Bundesstaat New York wird zum Schauplatz, um die wahre Geschichte von John „Divine G“ Whitfield für ein globales Publikum festzuhalten. Divine G (gespielt von Colman Domingo), der trotz Unschuld eine lebenslange Haftstrafe absitzen muss, ist Teil des Rehabilitation Through the Arts (RTA) Programms. Diese Initiative produziert Theater-Aufführungen in Gefängnissen, bei welchen die Mitwirkenden vorrangig aus Insassen bestehen. Sing Sing begleitet die Produktion eines einzelnen Stücks, im Laufe dessen Talente entdeckt, Freundschaften geschlossen und Herzen gebrochen werden.

Eine humane Alternative im korrupten Gefängnissystem der USA

Wie der Name bereits vermuten lässt, beschäftigt sich die Rehabilitation Through the Arts Initiative mit der Rehabilitation von Gefangenen durch das Ausüben kreativer Praktiken. Ursprünglich 1996 in Sing Sing gegründet, fokussiert sich das Programm auf zwischenmenschliche (Weiter-)Entwicklung anstelle von Bestrafung. Mit der Anerkennung von Menschenwürde, individueller Kreativität, Engagement und Zusammenarbeit ermöglicht RTA eine humane Form der Selbstverbesserung mit einem starken kommunalen Fokus. Durch Theater, Tanz, Musik, Schreiben oder Malen können individuelle Bedürfnisse hervorgehoben und in einer Gemeinschaft rezipiert werden.

Dabei geht es nicht darum, den nächsten William Shakespeare zu finden. Vielmehr sollen Mitglieder sich ihren eigenen Gefühlen bewusstwerden, diese benennen und produktiv weiterverarbeiten können. Sozialkompetenzen und Zusammenhalt werden dadurch ebenfalls gestärkt. Besonders bei einer Theaterproduktion, wie im Film dargestellt wird, ist es notwendig sich in einem Team auszutauschen, Diskussionen produktiv führen zu können und anderen sowie deren Ideen Platz zu bieten. Das dabei entwickelte Skillset kann nicht nur im Gefängnis zu Verbesserungen führen, sondern hilft den Mitgliedern auch nach ihrer Entlassung mit Hürden im Alltag umzugehen. The Arts, also kreative Praxen, sind hierfür die optimale Vermittlungsinstanz. Es gibt kein richtig oder falsch und keine „objektive Instanz“, die vorgibt, wie etwas sein muss. Vorrangig sind die eigene Wahrnehmung und das kollektive Miteinander.

Diese nuancierten Werte stehen in einem Kontrast zu den ansonsten streng eingehaltenen Dichotomien, also klaren binären Trennungen, des US-amerikanischen Gefängnissystems. Die US-amerikanische Population macht etwas mehr als 4% der Weltbevölkerung aus (ca. 347 Millionen Menschen) – gleichzeitig befinden sich 25% der weltweit eingesperrten Personen auf US-amerikanischem Boden, was sich auf exorbitant hohe 2 Millionen Menschen beläuft. Dies inkludiert nicht nur State Prisons, wie Sing Sing, sondern auch Federal Prisons und County Jails sowie Jugendstrafanstalten, Immigration Detention Facilities etc. Allein bei dieser Auflistung wird klar, dass das US-amerikanische Gefängnissystem unübersichtlich und verwirrend ist.

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Disclaimer: Dieser Essay liefert keine genaue Aufschlüsselung dieses Systems, da mir sowohl die Kompetenzen als auch der Platz fehlen. Um jedoch etwas Kontextualisierung zu liefern und vielleicht sogar vereinzelte Lesende zu einem eigenen tiefgreifenderen Google-Search zu motivieren, sind hier die relevanten Fakten. In den USA gibt es drei grundlegende „Level“ an Gesetzen. Federal Laws, welche im gesamten Land gelten, State Laws, welche in Bundesstaaten in Kraft gesetzt werden und Local Laws, welche innerhalb einzelner Städte gelten. State Prisons sind dafür zuständig, Personen, welche die Gesetze in dem jeweiligen Bundesstaat gebrochen haben, einzusperren. Hierbei wird zwischen drei grundlegenden Security-Typen unterschieden: minimum, medium und maximum security. Sing Sing fällt in die letzte Kategorie und, wie es für State Prisons üblich ist, fokussiert sich nur wenig auf potenzielle Rehabilitations-Maßnahmen der Insassen und vielmehr auf deren Verwahrung.

Wie die oben genannten Zahlen (25% der weltweiten Häftlinge/2 Millionen Menschen) sowie ein grundlegendes Verständnis der aktuellen geopolitischen Situation vermuten lassen, herrscht in den USA ein normalisierter Ausnahmezustand. Struktureller Rassismus und Diskriminierung, Privatisierung von staatlichen Aufgabenbereichen, wie etwa die Leitung und Instandhaltung von Gefängnissen, sowie die Kriminalisierung von Armut und Ausweglosigkeit haben katastrophale Folgen. Unverhältnismäßige sowie unbegründete Inhaftierungen von BIPOC, überfüllte Gefängnisse und inhumane Behandlung sind alltägliche Realität für viele US-Amerikaner:innen. Inhaftierte Personen werden gezwungen, für einen Stundenlohn zwischen 12 und 40 Cent/Stunde zu arbeiten. Somit tragen sie zwar zu einem essenziellen wirtschaftlichen Sektor in den USA bei, welcher jährlich Profite im Milliardenbereich verzeichnet, sind jedoch dehumanisierte und nicht anerkannte Subjekte in einem System der modernen Sklaverei. Sing Sing, als maximum security State Prison, steht repräsentativ für dieses System.

Nach einer Entlassung aus dem Gefängnis gelangen knapp 66% nach den ersten 3 Jahren wieder zurück in die Gefangenschaft. Fehlende Rehabilitations-Maßnahmen, Restriktion von Ressourcen, wie etwa der Zugang zu Unterkünften und Arbeitsstellen, sowie ein System, welches auf Bestrafung, Scham und Isolation basiert, können als Gründe genannt werden. RTA zielt auf eine Senkung dieser Rückkehr-Rate ab. Wie bereits beschrieben, fokussiert sich diese kreative Art der Rehabilitation auf zwischenmenschliche Kompetenzen mit Wertschätzung von Empathie und Fürsorge. Somit stellt das Programm einen alternativen und nachhaltigeren Zugang von Wiedereinführung der Gefangenen in die Gesellschaft dar. Nur etwa 3% von RTA-Mitgliedern werden nach Entlassung wieder Teil des Gefängnissystems. Durch den Erfolg des RTA-Programms wurde es seit Gründung in 9 weiteren Gefängnissen in New York, sowie in einem in Kalifornien etabliert.

My Beloved

Sing Sing überträgt die Kernbotschaft von RTA auf den Film und bildet Empathie und Gemeinschaft als realitätsverändernd ab. Colman Domingo spielt Divine G mit charismatischer Leichtigkeit, in welcher jedoch immer wieder Wut, Hoffnung, Verzweiflung, Neid, Freude, sowie platonische Liebe Platz finden. John Whitfield, welcher u.a. Executive Producer ist, beschreibt Domingos Performance mit „he captured the essence of me.“ So wird Whitfields Geschichte gegen das System, welches ihn weiterhin als schuldig sieht, durch die Produktion eines Theaterstücks erzählt. Neben Domingo brilliert Clarence „Divine Eye“ Maclin, welcher eine fiktive Version von sich selbst spielt. Der Widerwille, sich in einem System verletzlich zu machen, welches Schwäche ausnützt, ist tief verankert. Besonders, wenn man selbst von dem System profitiert und es eventuell sogar aufrechterhält.

Allerdings schaffen es kleine, unwichtig wirkende Momente der Aufmerksamkeit, die eigene Wahrnehmung zu verändern. So etwa der Moment, in dem Domingo als Divine G Divine Eye erklärt, dass sie als selbst referenzierenden Begriff untereinander nicht das N-Wort verwenden, sondern My Beloved. Auch etwa David „Dap“ Giraudy (as himself), Patrick „Preme” Griffin (as himself) und James „Big E” Williams (as himself) beweisen in Sing Sing die Notwendigkeit von humanisierenden und kollektiven Initiativen als Alternativen zu den brutalen Realitäten in US-amerikanischen Gefängnissen. Dies geschieht durch das Darstellen der eigenen Person im und das Mitwirken am Film, sowie die weitere Zusammenarbeit mit dem RTA-Programm. Wie Domingo in dem Zitat am Anfang schon beschreibt, sind es genau die kleinen Momente, in denen Zärtlichkeit zwischen Schwarzen Männern hervorgehoben und zelebriert werden, welche grundlegende Veränderungen bewirken können. Diese gelten daher als radikale Akte der platonischen Liebe zwischen BIPOC Männern und dezentralisieren die „klassischen“ Gefängnis-Narrative.

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