Poor Things: Schamlos gut

Eine Erinnerung daran, dass der Unglaube an das innere Kind eine arme Seele dazu zwingen kann, an das Patriarchat und den Kapitalismus zu glauben.

Emma Stone auf der Suche nach neuen Erfahrungen /// (c) 20th Century Studios All Rights Reserved

Eine hochschwangere Frau entscheidet sich gegen die irdische Erfahrung und stürzt sich von einer Brücke. Ein Wissenschaftler verbindet das Gehirn eines Babys mit dem leblosen Körper seiner Mutter. Und eine Frau entsteht, deren Entwicklung so sonderbar anarchistisch verläuft, dass sie die gesellschaftlichen Systeme in jedem Handeln kritisiert.

Das ist Bella Baxter

Ihr Gehirn und ihr Körper stehen noch nicht im Einklang, doch sie synchronisieren sich erstaunlich schnell im Verlauf des Films. Bella (gespielt von Emma Stone) ist das Werk des Wissenschaftlers Godwin Baxter (gespielt von Willem Dafoe), in dessen Jugendstil-Villa sie abgeschottet von der Außenwelt aufwächst. Zuerst noch völlig eingenommen vom frühkindlichen Stadium ihrer Entwicklung, wortkarg und impulsiv geht sie ihrem brennenden Drang nach Erfahrungen nach. Sie entdeckt ihre Sexualität durch Masturbation, die für sie nichts weiter als eine Methode zum Glücklichsein ist, und löst sich von den strengen Fängen Godwins.

Auf ihrer Heldenreise durch Portugal, Ägypten nach Paris enttabuisiert sie Themen wie Queerliebe, Polygamie und Sexarbeit, revolutioniert die 40-Stunden-Woche und stellt Gesetze und Verträge in Frage - "Why keep it in my mouth if it is revolting?", wie Bella es so schön auf den Punkt bringt.

Filmkulisse von Lissabon in Poor Things /// (c) 20th Century Studios All Rights Reserved

Trippen in HD

Ursprünglich basiert das Drehbuch auf dem Science-Fiction-Roman des Autors Alasdair Gray aus dem Jahr 1992. Dem Regisseur Giorgos Lanthimos gelang es, seine futuristische Erzählung ins viktorianische Zeitalter zu versetzen und daraus eine Gesellschaftssatire der Gegenwart zu kreieren. Aus der gestalterischen Trickkiste bediente er sich großzügig experimenteller Effekte und ausgefallener Filmkulissen. Insbesondere mit der Stilpalette "Alice im Wunderland" verpasste er jedem Ort, von London bis Paris, einen neuen Anstrich. Genau so wild und frei wie das Setting spricht der Film fließend Humor, der als Tor zur tiefsten Wirklichkeit dient. So gelingt es Lanthimos durch Witz und Verspieltheit das Übel unserer Zeit ernsthaft zu entlarven und bloßzustellen.

Träum weiter, Peter Pan

Durch Bellas freien Lebensstil sehen wir die Probleme, die sich unsere Gesellschaft selbst geschaffen hat, auf eine lächerlich-kleinliche Art. Warum bleiben wir noch bei alten Systemen und Gepflogenheiten, wenn der Lösungsvorschlag nur ein wenig mehr Ehrlichkeit und kindliche Unbefangenheit erfordert? Und ist Bella durch ihr neues Gehirn wirklich die pure Version ihrer selbst oder doch nur ein weiterer Mensch mit Peter-Pan-Syndrom? Damit bezeichnet der Therapeut Dan Kiley jemanden, der sich von seinem inneren Kind jeden Tag zum Spaßparadies überreden lässt, während sich Verpflichtungen und Verantwortung ansammeln wie das dreckige Geschirr in der Spüle jeder WG-Küche.

Kameramann Robbie Ryan filmt die tanzende Emma Stone /// (c) 20th Century Studios All Rights Reserved

Dennoch steht fest, genau wie Bella Baxter sollten wir einen Unterschied machen zwischen dem, was richtig ist, und dem, was nur legal ist. Genau wie Bella Baxter ist es nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Nur spielt Bella Baxter mit unfairen Karten: Sie hat es geschafft, vor ihrer Wiedergeburt ihr Schamgefühl in der Themse zu ertränken.

Blame it on Shame

Und Scham ist laut des Psychiaters Bernard Nathanson ein angeborener Affekt, an dem wir nicht einmal durch Gehirnverjüngung vorbeikommen. Durch eine Demütigung werden die Affekte von Interesse und Freude gehemmt, die uns lebendig, inspirierend und anziehend machen. Die Aussagen des Films sind trotzdem nicht weniger wahr. Wir müssen aber wirklich mutiger sein als es Bella ist und dürfen uns das Interesse nicht hemmen lassen, denn die Neugierde ist die ultimative Revolutionärin. Sie hält sich an keine Regeln und das einzig sinnvolle, was jeder von uns tun kann, ist, sie zur Komplizin zu machen.

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