Märchenoper FSK 16

Sex, Drugs und Spätromantik: Das MusikTheater an der Wien zeigt mit Schwanda, der Dudelsackpfeifer ein Erfolgsstück aus den 20-ern, das von der braunen Welle der NS-Zeit verschwämmt wurde und beeindruckt mit herausragenden Gesangsdarsteller*innen.

Zum Vorspiel nicht nur Vorspiel /// Matthias Baur, MTAW (c)

Nicht Die Zauberflöte, nicht Carmen und auch nicht La traviata, sondern Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer war die Oper, die in der Saison 1929/1930 im deutschsprachigen Raum am häufigsten gespielt wurde. Die Oper, in der zwei tschechische Märchen miteinander verwoben sind, erlangte nach ihrer Uraufführung 1927 in Prag schnell großen Erfolg. Die NS-Diktatur setzte der Popularität des jüdischen Komponisten Weinberger ein jähes Ende. Seit einigen Jahren findet Schwanda vereinzelt wieder den Weg auf die Spielpläne der Opernhäuser und wurde zuletzt vor allem als fantastische Märchenoper inszeniert. Jetzt hatte Schwanda am MusikTheater an der Wien unter der musikalischen Leitung von Petr Popelka in einer Neuinszenierung von Tobias Kratzer Premiere. Diejenigen, die eine FSK 6 Abenteueroper über einen magischen Dudelsack erwarten, werden bereits auf der Website darauf hingewiesen, dass das Stück aufgrund der Darstellung sexueller Inhalte erst ab 16 empfohlen ist. Kratzer, einer der aufregendsten Opernregisseure der Gegenwart (Wir haben über seinen Tannhäuser, seine Gazza und seine Medusa geschrieben), streift Schwanda das Gewand der märchenhaften Volksoper ab und möchte neue Perspektiven des Stoffes offenbaren. Hierfür wird die Dreiecksgeschichte zwischen Schwanda, Dorota und dem Verführer Babinsky fokussiert. Das realistische Bühnen- und Kostümbild von Rainer Sellmaier verlegt die Handlung ins heutige Wien.

Psychologie einer Dreiecksbeziehung

Bereits zu den aufbrausenden Blechbläserklängen der Ouvertüre sieht man Dorota mit ihrem Liebhaber Babinsky im Bett. Auch dem heimkommenden Ehemann und professionellen Dudelsackspieler Schwanda verspricht Babinsky erotische Abenteuer. Sogleich bringt Babinsky Schwanda in den eleganten Salon der „Eiskönigin“. Ihr Herz ist gefroren, sodass sie auf der Suche nach Emotionen Schwanda verführt. Als Dorota ihm, vom Seitensprung verletzt, Vorwürfe macht, flieht Schwanda entnervt in die anrüchige Devil’s Bar. Dorota bittet Babinsky, ihren Mann zu ihr zurückzubringen. Dazu ist Babinsky bereit, jedoch nicht ohne eine letzte Partynacht mit Schwanda zu verbringen. Das Bühnenbild beginnt nun durch zwei Drehscheiben zu rotieren, sodass klaustrophobe Räume entstehen. Kratzer zeigt im letzten, langen Orchesterzwischenspiel Szenen einer Nacht, in der Sexarbeiter*innen an Straßenecken stehen, Blowjobs gegeben werden, Clubgänger*innen in Lederoutfits tanzen, Menschen nackt in Käfigen gehalten werden und an deren Ende es Schwanda und Babinsky sind, die miteinander rummachen. Vor der (zeitweisen?) Rückkehr in die heteronormative Monogamie steht das exzessive Ausleben aller unterdrückten Sehnsüchte.

Eindrückliche Gesangsdarsteller*innen

Die Übertragung des Stoffes in die Gegenwart ist zwar nicht so raffiniert wie manch anderes Regiekonzept von Tobias Kratzer und wirkt stellenweise etwas beliebig, geht aber unterm Strich auf und ist dabei niemals langweilig. Die Figurenpsychologie, die Kratzer unter der Oberfläche der Märchenoper freilegt, entfaltet aufgrund der erstklassigen Solist*innen starke Wirkung. Andrè Schuen als Schwanda und Vera-Lotte Boecker als Dorota beeindrucken, indem sie gesanglich und darstellerisch große Dramatik aufbauen. Beide offenbaren sowohl die lyrisch sanften, als auch die dramatischen Facetten ihrer Stimmen und bringen das verzweifelte Begehren ihrer Rollen in berührender Verletzlichkeit auf die Bühne. Tenor Pavol Breslik begeistert das Publikum als Babinsky mit sicheren Spitzentönen, sodass das glänzende Protagonist*innentrio komplett ist.

Spätromantische Klangwelt

Die Wiener Symphoniker liefern für die sexuellen Ausschweifungen auf der Bühne einen satten spätromantischen Orchestersound, in dem immer wieder volksliedhafte Motive aufblitzen – vollkommen ohne Dudelsack. Petr Popelka, designierter Chefdirigent, hat offensichtlich Freude daran, das große Orchester laut aufspielen zu lassen, wobei die Transparenz der Stimmen nicht verloren geht, sodass ein schillernder Klangteppich entsteht.

Schwanda am MusikTheater an der Wien bietet die noch immer seltene Möglichkeit, in Jaromír Weinbergers Musik einzutauchen. Durch die fantastischen Gesangsdarsteller*innen Vera-Lotte Boecker und Andrè Schuen wird der Opernabend zum eindrücklichen Erlebnis.

Zu sehen am 24., 26., und 28. November im MQ, Restkarten für Studierende U27 um 20€.

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