“Alles, was still ist, ist friedlich” - oder?

55 Jahre nach der Uraufführung wird Peter Handkes Kaspar im Wiener Akademietheater von Daniel Kramer als bildgewaltiger, etwas chaotischer Abend auf die Bühne gebracht.

(c) Susanne Hassler-Smith

Peter Handke selbst sprach bei Kaspar von einer Sprechfolterung. Damals ein rebellischer Akt gegen Politik und Gesellschaft zur Zeit der 68er- Aufbrüche, er als eines der Gesichter der künstlerischen Umwälzung. Aber mittlerweile wissen doch alle, was Wörter anrichten können – was sagt das Stück also heute noch aus? Wie kann ein Mensch zum Sprechen gebracht werden – oder ist es letztendlich noch viel schlimmer, zu schweigen?

To speak or not to speak

Daniel Kramer wagt sich an das sprachlastige Stück und zeigt, wie ein Mensch durch Sprache erzogen, diszipliniert und gebrochen werden kann. Protagonist Kaspar (Marcel Heupermann) wächst fernab jeglicher Zivilisation auf, einzig und allein anonyme Stimmen, die sogenannten Einsager (Laura Balzer, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Markus Scheumann) sind für seine sprachliche Entwicklung zuständig. Erst als Neugeborenes, zumindest wenn man den Stückauftakt mit Gruselfaktor als Geburt wertet (sonst müsste man von einem rohen Monster sprechen), später als Kleinkind und allmählich Heranwachsender, lernt Kaspar die Bedeutung von Wort, Satz, Satzgefügen und Sprache im Allgemeinen kennen.

Bedrohlich zeigt sich die Macht der Wortbeherrschung, der Benennung von Dingen, des Ausdrückens von Gefühlen und Gedanken bereits früh, beispielsweise als Kaspar beim Nachdenken über einen Sturz feststellt: „Das Wehtun hört überhaupt nicht mehr auf, seit ich weiß, dass ich mich des Fallens schämen kann.“ Stille wirkt zwar vermeintlich friedlicher, andererseits erscheint alles, was genau bezeichnet und angesprochen werden kann, weniger unheimlich… denkt Kaspar zumindest. Die komplizierte Ambivalenz von Wort und Satz zieht sich durch den ganzen Abend, denn so verheerend ein falscher Ausspruch sein kann, so viel Schaden kann auch das Nicht-Mehr-Sprechen anrichten. 

Wenig Handlung trotz viel Sprache

Mal in langen Lackmänteln, mal in knappen Sportsachen und mit verschiedensten Masken ausgestattet (Kostüm von Shalva Nikvashvili) führen die Einsager Kaspar durch den Abend, auch dieser wechselt die Garderobe oft und lässt sie zu einem späteren Zeitpunkt dann auch gleich ganz weg. Viele Dinge erschließen sich nicht sofort (Warum darf beispielsweise Markus Scheumann kurzzeitig als Leiche fungieren?), zwischendurch wirkt alles wie ein großes Chaos. Zwar Chaos, in dem kunstvoll wortgewandt über den Sprachgebrauch philosophiert wird und in welchem die verschiedensten Stufen des Sprache Erlernens abgehandelt werden, trotzdem geht hier der ohnehin schon schwer zu erkennende rote Faden (falls man davon bei einer „Sprechfolterung“ überhaupt reden kann) etwas verloren. Mit der Zeit unterwirft sich Kaspar den sprachlich-grammatikalischen Konventionen und passt sich nun, von den Einsagern bitter gedrillt, fast perfekt der Etikette an.

Kein Sprechen ist eben auch keine Lösung

Und hier kommt es zu einem spannenden Szenenwechsel: Vorher in einer fabrikmäßig anmutenden, düsteren Halle mit riesiger und drehbarer Schiefertafel in der Mitte (Bühnenbild von Annette Murschetz) befinden wir uns im zweiten Teil des Stückes auf einmal in einer hell erleuchteten, sauberen Wohnung. Sofa, Bett, Küchenzeile, Duschkabine – alles da. Und auch Kaspar wirkt verändert, als er in Anzughose zur Tür hereinkommt, bereit für einen ganz normalen Abend auf dem Sofa. Doch er bleibt nicht lang allein, die Einsager tauchen als seine Klone auf und bewegen sich mit ebenso großer Selbstverständlichkeit in der Wohnung umher, allerdings gänzlich ohne Kontakt untereinander oder mit ihm aufzunehmen. Der springende Punkt und unheimliche Charakter dieser sehr langen Szene liegt darin, dass eben NICHT gesprochen wird. Kein einziges Wort wird gewechselt und so bleibt nichts Anderes übrig, als immer weiter im schrecklich eintönigen Feierabend-Trott zu versinken, bis die Situation tödlich ausweglos erscheint. Gefangen im Schweigen sind die Einsager hier ihrer ganzen Macht beraubt, einzig und allein Kaspar entkommt der Situation. 

Zum Schluss die Atombombe?

Diese Stelle wäre ein starkes Ende des Stückes gewesen, leider wird noch ein jahrmarktmäßiger Abschluss vor dem Vorhang angehängt, die Einsager als glitzernde Clownsfiguren verkleidet, Kaspar als blutverschmierte Dragqueen (warum, bleibt offen). Schlussendlich sitzt er allein auf der Bühne, vor ihm eine Art Atomkapsel. „Ich bin zum Sprechen gebracht, ich bin in die Wirklichkeit geführt“ hören wir ihn sagen und mit dem blinkenden Alarm der vermeintlichen Bombe endet die Vorstellung. Was also ist von Handkes Theaterstück heute noch übrig? Individualität entsteht durch Sprache, Wörter und Sätze zwingen Tatsachen schmerzhaft ins Bewusstsein und das war damals schon so und ist es heute noch. Die Manipulation und Gehirnwäsche eines Menschen, die gezeigt werden sollen, gehen im Laufe des Abends etwas unter. Im Raum steht die Frage, ob intellektuelle (zu anstrengende?) Sprachkritik heute nicht mehr ausreicht und deshalb mit grellen und komödienhaften Einfällen die Zuschauenden bei Laune gehalten werden müssen. Ein langweiliger Abend ist es jedenfalls nicht, das Publikum belohnt mit begeistertem Applaus.

Previous
Previous

“Just stay fucking normal”

Next
Next

Märchenoper FSK 16