Und die Welt wird größer

Früher haben mir Athina Rachel Tsangaris Filme die groteske Welt der Zwischenmenschlichkeit erklärt. Ihr neuer Film Harvest geht darüber hinaus und beschreibt ein Szenario, das nicht auf interpersoneller Ebene erklärt werden kann.

© Stadtkino Filmverleih

Ein Dorf bereitet sich auf die letzte Ernte vor dem Winter und ihr Erntedankfest vor. Die Stimmung ist angespannt: Einige Erträge scheinen auszubleiben und auf das Gut des Lehnsherren wird ein Brandanschlag verübt. Dass zusätzlich ein Kartograph auftaucht, um die Beschaffenheit des Landes festzuhalten, hilft nicht wirklich, um das Misstrauen im Dorf abschwellen zu lassen. Zwischen all diesen Umständen kommt dem Protagonisten Walter (Caleb Landry-Jones) eine Vermittlerrolle zu, die ihm schnell über den Kopf wächst.

Lieber Verweilen und sich nach dem Kleingarten sehnen

Walter hat im Dorf seit Jahren eine besondere Stellung. Er wurde durch die Hochzeit zu seiner mittlerweile verstorbenen Frau in die Gemeinschaft eingegliedert, ursprünglich war er jedoch Freund und Assistent des Lehnsherren George Kent (Harry Melling). Trotz Feudalsystem gehört er einer primitiven Form des Mittelstandes an. Dementsprechend scheint es selbstverständlich, dass er zwischen den Parteien des Gutsherren, des Kartographen und des Dorfes kommunizieren und Kompromisse finden soll. Das Problem ist nur, dass Walter passiver kaum sein könnte. Sein Interesse gilt dem Land an sich, dem Entdecken und Festhalten von Naturumständen. Die Neugier gegenüber dem Kleinteiligen wird in dem Moment, in welchem strukturelle Herausforderungen auftauchen, zu einem Nachteil. Er ist ein guter Beobachter, aber ein schlechter Vermittler, der von politischen Sphären schlichtweg überfordert ist. Die Moderne überrollt das Dorf, Landansprüche ändern sich und die ersten Züge des Kapitalismus scheinen sich breit zu machen: das Leben aus Selbstzweck muss der Effektivität weichen.

© Stadtkino Filmverleih

Die interessanteste Stellungnahme zu diesem Thema findet nicht auf narrativer Ebene statt, sondern durch eine technische Entscheidung. In vielen Reviews, die ich zu Harvest gelesen habe, wird die Kameraarbeit, die sich durch das Nutzen von 16mm-Film auszeichnet, als heillos überstilisiert kritisiert. Dabei ist dieser stilistische Kniff vielleicht am aussagekräftigsten, um Fragen von Moderne und Tradition zu kommentieren. Nostalgisch verklärt und dennoch unfassbar schön bäumt sich ein Medium auf, welches mittlerweile einfach nicht mehr praktisch ist. In jeder Einstellung des Films sieht man den Rahmen des Filmstreifens, es ist quasi unmöglich, nicht zu erkennen, dass analog gearbeitet wurde. Damit ist Harvest nicht allein, in Hobby- und Liebhaberkreisen geht der Trend zurück zu Analog. Zunehmend sehnen sich Menschen nach einem Selbstversorgergarten, alten Stahltöpfen, nach einem simplen Leben auf dem Land was in einem Vakuumerstmal kein Problem wäre, parallel leider dennoch zur Ästhetik von rechts-konservativer Propaganda wird. Tradwifes kochen für ihren Mann und lehnen Eigenverantwortung performativ ab. Einer Vergangenheit, die nie wirklich existiert hat, wird nachgetrauert. Angst vor Fortschritt wird zu Angst vor Anderem. Und mittendrin der Zentrismus, gewählte Apathie, die schlussendlich zur Identifikation mit Machthabern führt. Walter wird von Unentschlossenheit zermürbt, hat so lange kaum eigene Meinungen, bis eigene Meinung nicht mehr möglich ist. Sehnt sich so lange nach einer einfacheren Welt der Vergangenheit, bis nur noch Sehnsucht bleibt. Als Künstlerin nicht in die gleiche Falle zu tappen, scheint für Tsangari die höchste Priorität zu sein. Eben durch Walters Passivität arbeitet Rachel Athina Tsangari Aussagen über gesellschaftlichen Wandel und möglicherweise auch ihre eigene Rolle als Künstlerin heraus.

Macht des Schauens, Ethnographie und Selbstreflexion

© Stadtkino Filmverleih / MUBI

Sowohl Attenberg als auch Chevalier, Tsangaris bekannteste Langfilmprojekte, sind Werke, die sich mit den Grob- und Feinheiten der menschlichen Interaktion beschäftigen. In Attenberg nutzt eine weltfremde junge Frau (und parallel auch der Film) Mechaniken der Naturdokumentation, um sich komplexen Konzepten von Liebe, Sex und Partnerschaft anzunähern. Und in Chevalier wird überzogene Männlichkeit satirisch beleuchtet, indem ein, teils metaphorischer, teils wortwörtlicher Schwanzvergleich ad absurdum geführt wird. Beide Filme sind Charakterstudien, die, ganz nach Traditionen der „Greek Weird Wave“, alltägliche Interaktionen auf den Kopf stellen, um soziale Konventionen zu hinterfragen. Es handelt sich fast schon um einen anthropologischen oder ethnografischen Ansatz. Auch wenn man die Aussagen, die Attenberg  und Chevalier treffen, auf eine größere soziale Ebene projizieren kann, bleiben die frühen Filme von Tsangari  vor allem interpersonell. In diesem Kontext wird Harvest erst verstörend. Denn er fängt als kleine Sozialstudie über ein Dorf in Aufruhr an, kann diese Prämisse aber nicht halten. Denn die Welt wird größer.

Walter ist der Hauptcharakter der Erzählung. Dennoch ist der Kartograph Quill (Arziné Kene) eine interessantere Figur, um die Hauptmotive des Films nachzuvollziehen. Wo Walter Schaden anrichtet, indem er zu passiv auf sein Umfeld schaut ist, bringt Quill das Dorf durch seine zielgerichteten, beruflich bedingten Beobachtungen in Gefahr. Eine Hypothese wird den Film über immer weiter wiederholt: Dingen einen Namen zu geben, sie festzuhalten, verändert diese grundliegend. Quill ist kein Bösewicht, jedoch ist er ein Vorbote des Kapitalismus. Das Land wird in Parametern der Beschaffenheit, Bevölkerung und, besonders wichtig, des Ertrags, vermessen. Die Bräuche der Gemeinschaft werden von ihm am Rande observiert, aber nicht wirklich kommentiert. Seine Form der Ethnographie fluktuiert immer weiter zwischen offener, freundlicher Neugier und Zynismus. Insofern fungiert Quill gleichzeitig als Selbstkritik und Selbstinsert Tsangaris. Von außen zu beobachten, egal wie nett gemeint, potenziert Entfremdung und verfestigt Machtverhältnisse. Dementsprechend ist es wenig verwunderlich, dass er die einzige Figur ist, die im Verlauf der Handlung ein Schicksal erreicht, welches in seiner Absurdität an die alten Filme der „Greek Weird Wave“ erinnert. Die Welt ist zu komplex geworden, um sie durch kleinteiliges Sezieren parodieren zu können. Der alte Stil der satirischen Ethnographie ist nicht nur obsolet, sondern in seiner Apathie und Methoden, die meist von oben herab kommunizieren, kontraproduktiv.

Verlaufen im Dispositiv

Man braucht kein Vorwissen über Tsangaris Karriere, um Harvest zumindest interessant zu finden. Eine spannende, leicht beunruhigende Atmosphäre bleibt durchgehend erhalten und die Schauspielleistungen reißen auch in Momenten der narrativen Schwammigkeit das Ruder herum. Geduld sollte man dennoch mitbringen. Der Film betont in seinen über zwei Stunden einige Punkte etwas zu oft, andere Handlungselemente kommen dafür aus dem Nichts. Viele Motive werden mit dem Holzhammer kommuniziert, andere nie zu Ende gedacht. Harvest versucht parallel zu den bereits behandelten Themen von Selbstreflektion, Komplizenschaft und Moderne auch Fremdenfeindlichkeit und Sexismus anzusprechen, scheitert daran aber etwas. Die Fremden und Frauen, denen das meiste Misstrauen entgegengebracht wird, sind eine Fußnote in der sonstigen Handlung. Durch das Casting wird eine Schere zwischen den ethnisch weiß-britischen, abergläubigen Dorfbewohnern und den divers besetzten Menschen „von Außerhalb“ aufgemacht. Die implizite Message gegen Vorurteile ist klar, wird jedoch im Verlauf der Handlung mit zu vielen anderen Motiven vermischt und verliert sich zum Ende hin komplett. Hier nimmt sich der Film gleichzeitig zu viel und zu wenig vor.

Harvest sehnt sich nach einfacheren Zeiten in der Kunst, nach linear funktionierender, beobachtender Satire, nach 16-Millimeter-Film. Gleichzeitig ist sich der Film schmerzhaft bewusst, dass in Zeiten des gefährlichen Populismus reine Beobachtung nicht mehr ausreicht, um produktiv über Gesellschaft nachzudenken und kritisiert ideologisch passive Kunst. Dabei verkompliziert er sich selber, bis er zu keiner klaren Stellungnahme mehr fähig ist. Ob es sich dabei um ein versehentlich unbefriedigendes Zugeständnis oder um einen metatextuellen Geniestreich handelt, bleibt jeder*m selbst überlassen.

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