Jenseits des Protests: Die Radikalität des kollektivistischen Zusammenlebens
Zwischen Widerstand und Utopie: Direct Action dokumentiert das Leben in der ZAD – eine radikale Alternative zum Kapitalismus im Alltag einer autonomen Kommune nach erfolgreicher Besetzung.
© Filmgarten
Als im Februar 2008 das Projekt für einen neuen Flughafen in der Nähe der kleinen Kommune Notre-Dame-des-Landes bewilligt wird, ist niemandem klar, dass das 580 Millionen Euro teure Projekt 10 Jahre später aufgrund zivilen Protests aufgegeben wird. Der geplante Beginn der Bauarbeiten des Projekts, das schon in den 1960er Jahren entstanden ist, ist für das Jahr 2012 vorgesehen gewesen. Doch das 1.700 Hektar große Gebiet wird schon im Jahr 2008 als ZAD (zone à defendre – zu verteidigende Zone) deklariert und von einem AktivistInnen-Kollektiv sukzessiv besetzt. Der neueste Dokumentarfilm des Künstlerduos Ben Russell und Guillaume Cailleau Direct Action fängt die Zeit von 2020 bis 2022 ein, nach der erfolgreichen Okkupation der 2010er Jahre, als nur noch 150 Menschen in der ZAD leben und eine Art autonome Kommune für sich geschaffen haben.
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Der Film beginnt mit einem Laptopbildschirm und einem Ordner, in dem dutzende Filmaufnahmen der 2010er Jahre abgespeichert sind. Fragmentarisch offeriert uns der Film verschiedene Momentaufnehmen der Okkupation, die sich vor allem auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei fokussieren. Es ist eine Art von Prolog, die den historischen Kontext etablieren soll, ohne dabei auf die klassische Talking-Head- oder „Erklärbär“-Form anderer Dokus zurückzugreifen. Gleichzeitig wird der formale und inhaltliche Fokus des Films gesetzt, indem er darauf verweist, dass diese Zeit der Vergangenheit angehört. Direct Action befasst sich hauptsächlich mit dem friedlichen Landleben des Kollektivs in der ZAD.
Der 3 ½ Stunden lange Film wird in 41 Einstellungen erzählt, die, ganz im Stile der Dokumentarfilme des Regisseurs Frederick Wiseman, keine Voice-Over-Erklärungen, informative Einblendungen oder spezifische Interviews beinhalten. Die meisten der ungeschnittenen Einstellungen, die im Durchschnitt ein wenig länger als fünf Minuten laufen, zeigen Leute bei der Arbeit für die Kommune. Der Fokus liegt dabei vor allem auf Handwerk und Handarbeit. Wir sehen Menschen, die Unkraut jähten, Bäume fällen, Geräte schmieden und Felder pflügen. Das könnte beinahe den Eindruck erwecken der Film propagiere eine unbedachte Romantisierung der Bukolik – eine Art rurale Utopie, die in ihrem Kern auf eine faschistisch-reaktionären Blut-und-Boden-Ideologie fußt. Dieser Idealisierung entgeht der Film durch die Entpersonalisierung der Aufnahmen. Das Individuum steht hier nicht im Mittelpunkt, stattdessen ist es die tatsächliche Arbeit als kollektives Element, das in den Vordergrund gerückt wird. Darum sieht man auch oft keine Gesichter, sondern nur – in einer schönen Hommage an Bresson – die Hände, die die Arbeit verrichten. In einer besonders einnehmenden Szene widmet sich der Film dem Vermischen von Mehl und Wasser zur Herstellung eines Brotteiges und zeigt dabei nur die Hände der Person, die beinahe ritualhaft dem Prozess nachgeht.
Diese Entschleunigung ist nicht nur ein bloßer Verweis auf die Möglichkeit des Kino Zeit zu verzerren, sondern präsentiert die Loslösung von einem standardisierten Zeitmodell. Die Alternative zum kapitalistischen Produktions- und Leistungszwang offenbart sich in dem Leben der Kommune und spiegelt sich in der Form des Films wider.
Regisseure Ben Russell & Guillaume Cailleau | © Wojciech Chrubasik / Jakov Munizaba
Im letzten Drittel des Films kommt es dann zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen AktivistInnen und der Polizei. Der Aufmarsch der AktivistInnen spielt mit der Ikonografie der Kriegsfilme, indem immer mehr Menschen auf einem Feld aufmarschieren und einer Armee gleich sich Richtung Demonstration bewegen. Das Bild wird jedoch dadurch gebrochen, dass die „Soldaten“ Einhorn-Schwimmringe tragen und sich als Giraffen und andere Tiere verkleidet haben. Die Gewalt geht nicht von ihnen, sondern von den PolizistInnen, die man kaum sieht und die beginnen die AktivistInnen mit Tränengas zu beschießen. Dabei entsteht eine gespenstische Parallele zwischen dem Rauch des Tränengases und zwei zuvor gezeigten Szenen. In der ersten fliegt die Kamera mit Hilfe einer Drohne durch Wolken und in der zweiten bereitet eine Person neun Galettes gleichzeitig vor – dabei entsteht dermaßen viel Dampf, dass die ganze Küche verhüllt wird. Dass die brutalen Aufnahmen des letzten Drittels nicht der eigentliche Fokus des Films sein sollen und sind, scheint auch einer der AktivistInnen klar zu sein, die sich während der Auseinandersetzung zur Kamera wendet und ruft: „Das ist nicht das, was ihr filmen sollt!“
Der Titel des Films Direct Action ist dabei sowie ZAD ein Détournement – also eine Aneignung eines Begriffs und dessen Subversion. ZAD steht ursprünglich für zone d'aménagement différé sprich: ein zurückgestelltes Entwicklungsgebiet. Direct Action bezeichnet den unmittelbaren Eingriff in politische Kontexte. Der Film wendet sich jedoch bewusst vom Politischen ab und wirft in einer Zeit der Hyperpolitisierung den Blick auf den Alltag im Kollektiv. Die direct action sozusagen findet am Feld, in der Schmiede und auf Kindergeburtstagen statt. Die Politik wird zum Randphänomen. Die eigentliche Radikalität liegt nicht in der Besetzung und der erfolgreichen Abwendung des Flughafens, sondern im gemeinschaftlichen Alltag. Die Transgression liegt im funktionierenden Zusammenleben des Kollektivs, das somit, wie jede erfolgreiche Utopie nicht nur Kritik am Status Quo ist, sondern auch immer den Möglichkeitsraum durch Alternativen erweitert.
DIRECT ACTION läuft ab dem 6.6. in ausgewählten Österreichischen Kinos. Rund um den Start des Films findet in Wien ein Rahmenprogramm statt:
Ausgabe Wien (1090) Di. 3.-Sa. 7. Juni ab 18 Uhr allabendliches Programm mit Konzerten, Lesungen u.v.m. -
Fr. 6.6. 20:15 Uhr: Lesung & Präsentation des Buches Direct Action mit Servane D.
Sa. 7.6.: Gespräch und Ausklang mit Beteiligten des Films in der Ausgabe Wien (nach der Premiere im Gartenbaukino am Samstag ab 16 Uhr)
So. 8.6. 11 Uhr: Lobau-Spaziergang mit Jutta Matysek (Rettet die Lobau - Natur statt Beton) ab Eßling/Stadtgrenze Bushaltestelle
Mi. 11.6. Juni: Präsentation der Bücher Direct Action und Erste Beben (Aufständen der Erde)mit Servane D. im Antiquariat Erdstall, 1150 Wien (Adresse auf Nachfrage an office@filmgarten.at)