Nichts Neues am Mittelmeer
Die 78. Internationalen Filmfestspiele von Cannes sind vorbei. Und eines ist klar: So aufregend und zugleich enttäuschend ist vielleicht kein anderes Filmfestival der Welt. Eine kleine Reise an die Croisette.
The History Of Sound | © Fair Winter LLC.
Das diesjährige Cannes endete mit den großen braunen Augen Josh O’Connors. In Kelly Reichardts Film The Mastermind spielt der Brite einen melancholischen Kunstdieb. Eine erstaunlich leise Komödie, ideal für die letzte Vorführung am spätnächtlichen 24. Mai. Zuvor war es an diesem Samstag noch heiß hergegangen, mit der abendlichen Verleihung der Goldenen Palme an Jafar Panahis politische Tragikomödie It Was Just an Accident und einem Stromausfall, der Teile Südostfrankreichs lahmlegte. Just an Accident? Sabotage, mutmaßen manche. Den Filmfestspielen schadete das aber nicht. Während Restaurants, Geschäfte und Haushalte entlang der Mittelmeerküste ohne Strom blieben, konnte der Filmbetrieb im Palais des Festivals dank Notstromaggregat fortgeführt werden. Cannes, so kann man sagen, ist ein hartnäckiges Festival.
Seit 1946 finden die Internationalen Filmfestspiele jährlich an der malerischen Côte d’Azur statt. Einerseits sind sie ein weltoffenes Großevent, andererseits ein durchaus biederes Lokalereignis, dessen größere Veranstaltungen meist auf Französisch moderiert und idealerweise in Anzug mit Fliege oder Abendkleid besucht werden. Wen ein derartiger Nationalismus und Konservativismus stört, der kann auch wegbleiben. Cannes bleibt indes unverzichtbar – als Großbühne für Premieren und als lukrativer Filmmarkt. Neuerscheinungen werden hier nicht nur gezeigt und minutenlang beklatscht, sondern parallel auch verkauft. Arthouse-Filmschaffende, die auch auf die Academy Awards schielen, tun überhaupt gut daran, ihre Filmpremieren nach Cannes zu verlagern. Sean Bakers mehrfacher Oscargewinner Anora hatte zuvor die Goldene Palme gewonnen. Man darf also gespannt sein, welche Möglichkeiten Jafar Panahis diesjährigem Gewinnerfilm It Was Just an Accident offenstehen.
Politisch, kritisch, unglaubwürdig
Mit der Auszeichnung für Panahis regimekritische Tragikomödie hat die Jury unter Leitung der Schauspielerin Juliette Binoche auch eine politische Entscheidung gefällt. Womit sich ein Kreis schließt: So hatte bereits Ehrengast Robert De Niro die Eröffnung der Filmfestspiele genutzt, um Politik zu machen, also gegen Donald Trump zu wettern und zu Protesten aufzurufen. Als lebender Protest kann Jafar Panahi durchaus betrachtet werden. So gilt der iranische Regisseur, der bereits die Hauptpreise der Berlinale und der Filmfestspiele in Venedig entgegennehmen durfte, als einer der prominentesten Kritiker des Mullah-Regimes. Bereits zwei Mal saß er im Iran in Haft, zuletzt 2023. Dass er sichtlich gerührt den Hauptpreis entgegennehmen durfte, wurde von vielen Medienvertreter*innen begrüßt.
Ob der heimlich im Iran gedrehte It Was Just an Accident nicht nur eine mutige Widerstandsgeste, sondern auch einen künstlerischen Triumph darstellt, darf aber zumindest angezweifelt werden. Panahis Film über die Entführung eines Gefängnisfolterers und die Rachepläne seiner ehemaligen Opfer ist auf dem Papier zwar moralisch komplex und zunächst auch charmant zwischen Tragödie und Komödie inszeniert; bald jedoch verliert sich die Handlung in Übersteigerungen und Unglaubwürdigkeiten, wirkt als Komödie zu ernst und als ernsthafter Film zu albern. Wenn die Entführer*innen an einem Punkt plötzlich entscheiden, sich um das Kind und die schwangere Frau ihres ehemaligen Folterers zu kümmern, wird der Film geradezu grotesk.
Unstimmig und unglaubwürdig wirken viele Filme des offiziellen Wettbewerbs. Auch der Gewinner des Großen Jurypreises Joachim Triers Sentimental Value mutet seltsam unentschieden an. Die (erneut!) tragikomische Geschichte über einen Filmemacher (Stellan Skarsgård), der die schwierige Beziehung zu seinen Töchtern in einem Spielfilm behandeln will, springt auf 130 Minuten von Szene zu Szene und schafft es kaum, seinen Figuren Raum zu geben. Gleiches gilt für das eintönig inszenierte absurde Roadmovie Sirāt von Oliver Laxe, das den kleinen Preis der Jury gewann, und Kleber Mendonca Filhos Film The Secret Agent (Preis für die beste Regie). Filhos zäher Politthriller, der im Brasilien der 1970er spielt, lässt sich mit seiner stolzen Laufzeit von 160 Minuten Zeit, um von allem und nichts zu erzählen. Warum die Regie für dieses Durcheinander einen Preis erhielt, bleibt schleierhaft.
Sound of Falling | © Fabian Gamper / Studio Zentral
Stolze Laufzeiten und ein fehlender Fokus zeichnen einige der Filme im Wettbewerb aus. Alpha, der neue Film von Julia Ducournau (Goldene Palme 2021 für Titane), folgt einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung während der AIDS-Krise. Der eigentlich berührende Film verliert sich schnell in unnötig komplizierten Zeitsprüngen und unterentwickelten Subplots, und das bei 130 Minuten Laufzeit. Ebenfalls unnötig lang und bieder bebildert ist das Melodram The History of Sound über die Liebe zweier Musikforscher, gespielt von Paul Mescal und Josh O’Connor. Auch die atmosphärische Familien- und Geistergeschichte Sound of Falling der bisher eher unbekannten deutschen Regisseurin Mascha Schilinski (Preis der Jury) hätte nicht unbedingt 150 Minuten gebraucht, um ihre Sogwirkung zu entfalten.
Queerness und Wahlfamilien
Dabei hat Schilinski eigentlich viel zu erzählen – gerade von Frauenschicksalen. Was zur gegenwärtigen Zielsetzung von Cannes passt. Seit einiger Zeit wollen die Filmfestspiele nicht nur großen Männern eine Bühne bieten. Das beginnt mit der Jury. Letztes Jahr stand dieser Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig vor, dieses Jahr ist es Juliette Binoche. In ihrer Eröffnungsrede schwor die Schauspielerin Künstler*innen darauf ein, sich gegen Krieg und Misogynie zu positionieren. Dem strukturellen Sexismus der Filmindustrie ist damit allerdings noch lange nicht entgegengewirkt. Im diesjährigen Wettbewerb sind lediglich 7 Filme von Frauen, 15 von Männern, gewonnen hat wie letztes Jahr ein Mann. Von queeren Perspektiven will man erst gar nicht anfangen – wobei es diese außerhalb des großen Wettbewerbs durchaus gab.
So zeigt der Gewinner der alternativen Wettbewerbssektion Un Certain Regard The Mysterious Gaze of the Flamingo das Leben einer Wahlfamilie von trans*-Menschen im Chile der 1980er. Eine queere Person steht auch im Mittelpunkt des brasilianischen Mammutwerks I Only Rest in the Storm (3 ½ Stunden!), sie entführt den Protagonisten, einen planlosen Unternehmer, in eine schillernde, bunte Community. Communitys, gerade von Frauen, sind Gegenstand einiger Filme des Wettbewerbs. Mascha Schilinskis Sound of Falling erzählt die geisterhafte Geschichte eines Farmhauses im Nordosten Deutschlands ausschließlich anhand von Frauenschicksalen. Für Julia Ducournaus Alpha ist eine Mutter-Tochter-Beziehung zentral, die Männer sind hingegen eher Stolpersteine. Und im Zentrum von Jean-Pierres und Luc Dardennes Jeunes Mères stehen, wie der Titel schon verrät, junge Mütter.
Jeunes Mères | © Christine Plenus
Neben diesen solidarischen weiblichen Gemeinschaften stehen radikale weibliche Individuen. The Chronology of Water, das auf 16mm gedrehte Regiedebüt der Schauspielerin Kristin Stewart, folgt der chaotischen Lebensgeschichte der Profischwimmerin und Autorin Lidia Yuknavitch. In assoziativen Montagen sehen wir Yuknavitch (gespielt von Imogen Poots) schreien, spotten, vögeln und schreiben – immer mit Gewalt gegen sich, aber auch ihre Umgebung, die sie schon in frühen Jahren missbraucht hat.
Ebenfalls gewalttätig-chaotisch agiert die von Jennifer Lawrence gespielte Schriftstellerin Grace in Lynne Ramsays Die, My Love. Nach der Geburt ihres Kindes löst sich Grace zunehmend aus der Hausfrauenrolle an der Seite ihres Mannes (Robert Pattinson), spielt mit einem Messer, spielt eine Raubkatze, rennt in die Wälder, wird zu dem, was das Patriarchat eine Hexe nennt. Ein verrückter, bedrückender, zuletzt befreiender Film jenseits psychologisierender Problemdiagnosen.
Vampire in Neon
Die, My Love gehört wie Sound of Falling und The Chronology of Water zu den wenigen Filmen im Programm, die nicht bloß eine Geschichte erzählen wollen, sondern mit der filmischen Form experimentieren. Sei es durch assoziative Montagen, abrupte Handlungsentwicklungen oder variierende Bildformate und Kameras. Fast konkurrenzlos bleibt in diesem Bereich aber Resurrection, das neue Werk des Regisseurs Bi Gan. Beinahe hätte es der fast dreistündige Film nicht mehr in den Wettbewerb geschafft, chinesische Zensurvorgaben verzögerten die Postproduktion. Böse Zungen könnten nun behaupten, dass das Resultat die schwierige Entstehungsgeschichte erkennen lasse. So ist die Handlung um einen Vampir, der gleichzeitig ein mysteriöser Träumer und Zeitreisender ist, weitgehend unverständlich und zerfällt in einzelne Abschnitte, die sich sowohl erzählerisch als auch visuell voneinander abheben. Mal tauchen wir in eine surreal stummfilmhafte Märchenwelt ein, mal in ein Gangsterdrama, mal in eine abstrakte Großstadt. Letztere erstrahlt in unnatürlichen Neonfarben, eingefangen durch eine wahrhaft atemberaubende 40-minütige Kamerafahrt. Bi Gans Mammutwerk erhielt den Spezialpreis der Jury – wohl ein Kompromiss. Verdient hätte er den Hauptpreis.
Resurrection | © DANGMAI FILMS
Einen vergleichbaren Experimentierwillen verrät der skurril betitelte Drunken Noodles des argentinischen Regisseurs Lucio Castro. Im Mittelpunkt steht Kunststudent Adnan, der während seines Praktikums in einer New Yorker Galerie auf pornografische Stickereien stößt. Die entführen ihn in eine queer-psychedelische Welt voller geisterhafter wie mythischer Begegnungen. Definitiv eine Ausnahme in Cannes, das sich mehr mit dem traditionellen Erzählkino beschäftigt und Drunken Noodles konsequent in der kleinen Nebenreihe „ACID“ platziert hat (die Anspielung auf die gleichnamige Droge ist tatsächlich nicht beabsichtigt).
Unter Filmnerds sind gerade diese Nebenreihen die eigentlichen Highlights von Cannes. Schließlich unterliegen die Filme im offiziellen Wettbewerb – darunter auch dieses Jahr große Namen wie Richard Linklater (Nouvelle Vague) oder Ari Aster (Eddington) – oft dem Zwang, beliebte Themen möglichst schwungvoll, aber nicht gerade ideenreich zu präsentieren. Dass Film mehr ist als eine gut getaktete Bebilderung von Drehbüchern, scheinen diese Regisseur*innen nicht zu verstehen. So bleibt Cannes auch im 78. Jahr ein etwas altmodisches Filmfestival. Ein besonderer Ort der Begegnung, aber nicht unbedingt ein Ort filmischer Innovation.