Ein Fleckerlteppich für Verortung

Künstlerischer Prozess, Theater und Lebensrealität zugleich? Das Dokumentartheaterstück PEACES (Fragments of Love) im Theater am Werk verbindet.

Ein zerstückeltes Bühnenbild für PEACES /// (c) Victoria Nazarova

Dokumentation schafft Wirklichkeit – oder umgekehrt?

Ein Dienstagabend im Untergrund des ersten Wiener Gemeindebezirks. Zehn Meter unter dem touristischen Getümmel entsteht hier bald – oder immer noch – ein Dokumentartheaterstück von Kristina S., Nastya K. und Volker Schmidt: PEACES (Fragments of Love). Türen auf. Eine Horde an plaudernden Zuschauer*innen strömt dicht an dicht in den Raum. Freie Platzwahl. Doch ein paar Plätze sind bereits besetzt. Denn um den großen Tisch auf der Bühne sitzen fünf Personen, mit Abstand, doch verbunden in einer hitzigen Tirade: Brainstorming, Gedankenteilen, Fragmente eines Meta-Themas. Gehört das schon zum Stück? Schon jetzt sind die Puzzleteile erkennbar, die Ravensburger-Box mit der Aufschrift „Wie gehen wir das an?“ geöffnet, ihr Inhalt im Kopfzerbrechen verstreut.

Aber eins steht fest: Es geht um zwei Frauen. Um zwei Schauspielerinnen. Es sind zwei Kolleginnen. Nastya ist Ukrainerin, Kristina Russin, beide jedoch vor allem Freundinnen. Und nun der Krieg. Beide waren vor der russischen Invasion der Ukraine in Moskau beschäftigt. Es geht um die Beziehung zwischen den Freundinnen. Also, den Schauspielerinnen. Beziehungsweise, der Ukrainerin und der Russin eben. Und darum, wie sich diese Verbundenheit verändert hat, wie und wo sie jetzt liegt und was das mit dem Stück zu tun hat. Ja, es geht um ein Stück über das Stück über die Beziehung über das Stück. Fragments of Love. Peaces. Ein Fleckerlteppich für den Frieden.

Doch ganz so einfach ist das nicht. Dass Fiktion und Realität keine Gegensätze sind, wird im Laufe des Abends immer klarer. Etwa, als das Stück abgesagt werden muss. (Ja, wirklich!). Weil die ukrainische Schauspielerin Nastya aus dem Projekt aussteigt. (Ja, wirklich!). Als das Stück doch weitergeführt wird, die russische Kollegin Kristina aber nicht als einzige der beiden den Bühnenraum einnehmen möchte. (Ja, wirklich!). Als die Übersetzerin Aidana zur Vertreterin Nastyas avanciert. (Ja, справжній!). Als die Freundinnenschaft dokumentarisch und intim, fragmentarisch durch Zoom-Calls und Briefe in Chronologie mit den Kriegsentwicklungen in und auf die Theater-Probe gestellt wird.

Puzzlestücke oder Fragmente?

Es ergibt sich ein hochemotionaler Einblick in die Lebensrealitäten zweier Freundinnen, deren Beziehungsstruktur durch Zuschreibung von und Zugehörigkeit zu verschiedensten Differenzierungskategorien verformt und laufend neu definiert werden muss. Die Puzzleteile werden zugleich erkennbarer und verformter. Eine etwas undurchsichtige Tanzeinlage inkludiert.

Das Bühnenbild von Johannes Weckel spiegelt das Leitthema des Abends wider: Ein Paar bruchstückartige, weiß-kahle Türme, die abgerissenen Kartonteilen ähneln. Sie sind Pieces und zugleich Projektionsfläche zweier Beamer. Dazwischen wird ein Haus gebaut, darüber hängen mehr kahle Fetzen. Simpel, stimmig. Ein paar wenige der fragmentarischen Einlagen sind anfangs schwierig im Ganzen zu verorten. Dass alles unter dem Meta-Mantel der persönlichen Erfahrung geschieht, verleiht dem Fleckerlteppich aus Anekdoten und Lebensrealitäten aber wieder einen roten Faden.

Der Meta-Mantel hüllt uns alle ein

Es wird kuschelig unterm Meta-Mantel. Im Theater bist du als zusehende Person niemals passiv. Das wird mir spätestens an einem Abend der Kontextualisierung, der Infragestellung der individuellen Positionen der Theaterschaffenden immer wieder bewusst gemacht: Wer sieht hier überhaupt wem zu? Und von wo? Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie ich über ein Thema schreiben soll, das nicht meines ist. Ich bin als in Westeuropa in den 2000ern aufgewachsene Person von direkten Kriegserfahrungen verschont geblieben.

„Is it possible to understand me when your experiences are so different from mine?” Die Frage Nastyas scheint nicht nur an Kristina gerichtet zu sein. Meine eigene Unbeholfenheit wird mir immer wieder bewusst gemacht, indem ich etwa in den mehrmaligen Liedeinspielungen ohne Übersetzung völlig aufgeschmissen bin. Mir ist nicht einmal klar, in welcher Sprache in den Folk-Pop-Songs gesungen wird, ob es Ukrainisch ist, ob es Russisch ist. Und es stimmt schon, es ist emotional, es ist ergreifend, es ist erschütternd, es ist nicht meine Lebensrealität. Peaces schafft es, den Meta-Mantel aus Wolle der Kontextverortung zu stricken und alle damit zu bedecken. Peace for Peace.

Peace by piece

Gründe für Entscheidungen sind vielschichtig. Sie sind Puzzlestücke, die nur auf die individuelle Situation zugeschnitten passend sein können. Fragmente, die für andere zwar nachvollziehbar sind, aber niemals wirklich verstanden werden können. Weil es nicht die eigenen pieces sind. Selbst, wenn ein paar wenige der Puzzleteile in Peaces (Fragments of Love) auf den ersten Blick vielleicht schon zu fragmentarisch wirken mögen, der Bezug zu den individuellen Lebensrealitäten ist da. Das Ganze funktioniert und schafft einen wirklich gelungenen Abend.

Previous
Previous

Das Leben als masochistisches Lustspiel

Next
Next

Berlinale ‘24: In Another Country