Das Fertigsein mit dem Fertigsein

Sulzenbachers Erstling Abriss.Prosa geht bewusst steinige Wege. Dass das Buch der eigenen Identitätsverweigerung nicht standhält, ergibt eine einzigartige Erzählstruktur.

Gerd Sulzenbacher /// © Mathias Müller

Vom Ende des ewigen Anfangens

Wie eine Kritik zu Abriss.Prosa schreiben? Wie überhaupt etwas beschreiben, das sich Identitätszuweisungen widersetzt? Vielleicht mit dem wichtigsten Stückchen Kontext, das ich zu bieten habe: Ich bin seit 15 Jahren mit Gerd Sulzenbacher befreundet. Ich kann hier keine Kritik anbringen, ohne diesen Punkt zu erwähnen, geschweige denn zu berücksichtigen. Dadurch ist es mir natürlich unmöglich, unparteiisch zu sein. Glücklicherweise ergeben sich aus diesem Umstand aber auch interessante Prämissen, unter deren Gesichtspunkt ich hier eher einen Essay zu diesem Buch als eine reine Kritik über dieses Buch schreiben will.

Im ersten Moment mag man* natürlich denken, dass ich in erster Linie positiv befangen wäre in Bezug auf Abriss. Prosa, ich würde aber ganz das Gegenteil behaupten. Beim Lesen von Sulzenbachers Buch fielen mir nämlich Dinge auf, die mir bei anderen Schreibenden wohl völlig egal gewesen wären: Kleinigkeiten, die ich anders geschrieben hätte oder für seltsam und unfertig hielt. Dinge, die ich bei einem anderen Buch nie aussetzen würde, Dinge, die mir bei einem anderen Buch wohl nie in der Form ‚kritisch‘ aufgefallen wären.

Warum war das so? Ich habe einen zentralen und zweischneidigen Ansatz zur Erklärung anzubieten: In erster Linie hat meiner Leseerfahrung von Abrissprosa das übliche Autoritätsversprechen von Kunst gefehlt. Meistens ist es ja der Buchdeckel, der ein solches zu einem Kunstwerk erklärt, und weniger die Qualität oder Nichtqualität seiner Seiten. Ähnlich einem Bild, das im Museum hängt, oder einem Film, der im Kino ausgestrahlt wird, verspricht dir der Buchdeckel, hier einen zu beurteilenden Kunstgegenstand zu haben. Gefallen und Qualität haben für den*die Endverbraucher*in letztlich wenig damit zu tun, ob ein Buch im Umkehrschluss als fertiges Kunstwerk betrachtet werden muss. Ganz im Gegenteil: Man* kann nur dann über die Qualität einer Sache urteilen, wenn man* davon ausgeht, dass die Sache auch so ist, wie sie sein soll – sonst würde man* sich ja mit Luftschlössern abplagen und nicht mit dem Ding, das vor dir liegt und auf Beurteilung wartet.

Abriss.Prosa lässt sich interessanterweise als Erstling nicht von seinem Buchdeckel beirren. Durchgehend widersetzt sich das Buch nämlich v. a. einem Prinzip: der ideologisch befriedigenden Selbstkonsolidierung von Identitäten. Der Zuweisung und/oder Aneignung von Rollen, die man* zu spielen hat. Und weil Identität so oft an eine Erzählung gebunden ist, ist das literarische Erzählen auch gleich von dieser Identitätsverweigerung mitbetroffen. Über allen Dingen schwebt in Abriss.Prosa: die Grundannahme der Unfertigkeit. In jedem Aufbau steckt von Beginn an ein Abriss mit drin.

Vielleicht hier zum Titel selbst: Grundsätzlich kann das Wort Abriss als Plan für ein zukünftiges, unfertiges Bauvorhaben gelten. Ein Abriss kann aber auch ein baufälliges Objekt zum Einsturz bringen, es also in seine eigene Vergangenheitsform bringen: Ruine, es war einmal usw. Der Titel enthält also ein sogenanntes janusköpfiges Wort, eines, das sich selbst genau im Gegenteil widersprechen kann. Auf das Januswort folgt eine scheinbar plumpe Genrebezeichnung, die in einem Titel normalerweise nichts verloren hat: Prosa. Prosa erscheint in Abriss. Prosa also nicht nur als Form des Erzählten, als ‚nach vorn gewandte Rede‘. Prosa ist in diesem Buch auch ein essentielles Vorhaben und scheinbar auch ein Gegenstand des Buches. Darunter Fragen wie: Wie werden Narrative erstellt und welche Auswirkungen haben sie? Welche Identitäten/Scheinidentitäten werden mit Erzählungen, Namen und Titeln konstruiert? In Abriss. Prosa wurde sogar der übliche Doppelpunkt in der Mitte einfach abgerissen und bleibt als ungewöhnlicher Einzelpunkt zwischen den zwei Wörtern übrig. Natürlich sind all diese Gedanken irgendwo weit hergeholt und machen mehr aus der Sache, als wahrscheinlich ist – aber warum auch nicht? Ich hab schon weniger komplizierte Titel komplizierter auseinandergefächert, und wie gesagt: Ich kenne den Autor seit über 15 Jahren.

Andere Anfänge stehen auch hier im Raum: In Schriftsteller*innenkreisen gilt ja ein jedes erste Buch bzw. ein jeder erste Roman als so etwas wie ein hypersymbolischer Akt, als eine Art primordialer Initiationsritus, wenn man* so will. Oft steht weniger die Aussage des Erstlings im Vordergrund als vielmehr die Auszeichnung, eine solche Erstlingsleistung überhaupt erbracht zu haben. Manch ein Lyrikband reicht nicht für die Aufnahme in den Zirkel der wirklich Literaturschaffenden. Da muss dann schon der Romanbegriff her und der dann dementsprechend mit Länge gefüllt werden. Dann kann man* mitspielen (natürlich auch nur, sofern man* die richtigen Mitspieler*innen kennt). Großformatige Bilder oder abendfüllende Spielfilme haben ebenso eine größere Chance, jene größere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die den Kapitalwert am Kunstmarkt maßgeblich mitstellt.  

Vor Abriss. Prosa habe ich schon unzählige andere Seiten von Sulzenbacher gelesen oder gehört. Ich kenne v. a. die unzähligen unfertigen Seiten, die nicht veröffentlichten und nicht gebundenen, die den fertigen hier vorangehen. Abriss. Prosa istwie ein jedes abgeschlossene Buch bis zu einem gewissen Grad – sozusagen eine vielschichtige Sammlung ihrer eigenen Gegenteile und Vorgängerversionen. Versammelt sind in diesen 160 Seiten die Opfer, die man* jahrzehntelang erbringt, wenn man* seine Fertigkeiten von seinen Nichtfertigkeiten scheidet, dies über Hunderte von Seiten hinweg, zumeist in mühseliger Hand- und Hirnarbeit, bis spät in die Nacht. Nicht selten sitzt man dann am Ende eines Tages ganz blind vom Schwarz auf Weiß und greift durch die zähe Buchstabensuppe wie durch unförmigen Sand. Nichts verrät mehr, was hält und was nicht. Gerade in diesem Zustand muss man den Sand dann aus der Hand geben. Jede Veröffentlichung ist so etwas wie ein nachträglicher Abriss von Arbeit, jedes Publizieren ein Abriss von Prosa.

Dead on Arrival

In den knapp 160 Seiten geht es um den Abriss und Aufbau einer unbenannten Ich-Figur. Die driftet zwischen lethargischer Handlungsunfähigkeit und inneren Veränderungswünschen hin und her. Sie scheint regelrecht aus dem Geiste des Widerspruchs geboren zu sein, dead on arrival, und mit ihr auch ihre Welt, aber dazu komme ich noch. Weniger wird mit dieser Ich-Figur aber ein stimmiges Bild von zeitgenössischer Zerrissenheit gezeichnet, als vielmehr ein unzusammenhängendes Bild von Identitäten gegeben, die ohnehin immer nur behelfsmäßig aufgestülpt sind: der*die Draufgänger*in, der*die Gutbürger*in, der*die Bobo, der*die Proletarier*in usw.

Ihren Beruf beschreibt die Erzählfigur als Mitarbeit in einem Wissenschaftsarchiv. Pauschaler Begriffsstempel des Arbeitsplatzes ist: Digital Humanities. Dass ein Mensch zuerst über seinen Arbeitsplatz definiert wird, macht dramaturgisch gleich schon klar, dass alle weiteren Beschreibungen eines Menschen ähnlich ins Leere oder “zumindest Hohle laufen können”. Es werden Statthalterinformationen gegeben, die mit dem eigentlichen Menschen wenig zu tun haben – eigentlich ein Erzählmuster der Autofiktion. So bezeichnet sich die Erzählfigur dann immer selbst, speziell in der Arbeit, als eine Crashtestversion ihrer selbst, als Crashtestdummy.

Ähnlich sinnentleert werden Belanglosigkeiten oder Ereignisse des Alltags erzählt. Diese strukturieren den Inhalt der 46 Kleinstkapitel. Stellvertretend dafür die sinntötenden Arbeitsaufgaben der Ich-Figur gleich zu Anfang:  „Seit einer Woche bearbeitete ich im Tabellenprogramm Excel die Liste […]. Von Zeit zu Zeit erkundigte sich der Nirwana-Sekretär nach dem Fortschritt. Mein Dummy scrollte einen plausiblen Zeilensatz abwärts, ich las eine vierstellige Zahl ab. Das genügte. Hin und wieder sagte ich Sachen wie: Wir kommen gut voran. Oder: „Heute geht gar nichts.“ (S. 21 f.) Hohle Zahlen werden abgelesen und mit hohlen Bedeutungen belegt. Das Erzählen beschreibt sich selbst über den Umweg des Lebens. Der umgekehrte Fall trifft natürlich genauso zu.

Ähnlich sind die sozialen Bindungen und Begegnungen des Buches zu lesen: „Du kannst es dir leisten, so abgerissen beieinander zu sein, sagte mir Tauber letzte Woche bei einem alkoholfreien Bier: Also wirst du für eine entspannte Person gehalten. […] Taubers Schlußfolgerung taugte mir insofern, als dass ich sie für Unfug hielt. […] Es ist praktisch, für jemanden gehalten zu werden, dachte ich. Allein deshalb, um der Identitätsfeststellung, der wir uns gegenseitig tagtäglich unterziehen, etwas entgegenzuhalten […].“ (S. 13) Die Figur urteilt viel über die Welt. Sie belächelt im Zitat oben z. B. einen Bekannten, der sie wiederum versucht zu kritisieren, zu beurteilen, zu definieren. Die Welt und ihre Protagonist*innen entstehen sozusagen aus dem urteilenden Erzählmund der Figur, kommen erst durch denselben zustande, werden kritisch geboren. Dead on arrival, wie gesagt.

In den ersten dreißig bis vierzig Seiten des Buches wirkt die Ich-Figur durch ihre erzählerisch gerechtfertigte Überlegenheit oft eher wie ein Instrument der Kritik, die das Buch an der echten Welt stellvertretend äußern will, und weniger wie eine organisch gekünstelte Figur, mit einem wohl austarierten Sammelsurium an Vorzügen und Fehlern: „Und das, was [Tauber] meinte und was ich glaubte, mit meiner gelassenen Abgerissenheit hinreichend darzustellen, war in Wirklichkeit nichts anderes als mein fundiertes Desinteresse, womit ich dem Hauptteil der an mich herangetragenen Erfordernisse begegnete. Schon war Tauber zu seinem sparsamen Mienenspiel zurückgekehrt. Er saß ruhig und wie in sich selbst drin. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich diese Gesetztheit, die mir doch der äußere Bau zu sein schien für die stumme Unruhe in dessen Mitte.“ (S. 14) Durch das überscharfe Beurteilen der Außenwelt aus der versteckten und sicheren Innenperspektive – aus der Erzählperspektive – erscheint das Ich zu Anfang als beinahe unmenschlich glatt, als unwirklich und unsympathisch.

Aber genauso, wie das Ich beinahe zu olympisch, zu erhaben wirkt, indem es die Zerrissenheit seines Umfelds herausstreicht, so ist es auch authentisch in seiner Art von Selbstüberhöhung und Verblendung. Es ist wie gesagt nicht fiktional ausgeglichen, ist nicht dem Lernprozess eines Publikums unterworfen und verschrieben. Nicht nur ist es irgendwo authentisch zu Reibung mit den Leser*innen bereit, es verändert sich auch mit der Zeit, entwickelt eine wiedererkennbare Identität, ob es sich dagegen wehrt oder nicht. Im Laufe der losen Handlungsstränge wird nämlich nicht nur glasklar, dass es von Anfang an nie wirklich über den Dingen stand, sondern ganz im Gegenteil, dass es irgendwie an ihnen zu hängen scheint, gerade über den Weg seiner übermäßigen, und nicht abreißenden Kritik. Nicht umsonst kehrt es immer wieder zurück zu den Orten, erzählt immer weiter und immer wieder von denselben Leuten, von dieser unfertigen Welt, die sich aus einem halb reellen Wien herausschält.

Das Gutmenschen- und Bobotum, die das Ich am öftesten kritisiert (und bezeichnenderweise auch frequentiert), entpuppt sich im Laufe der Handlung lediglich als der berühmte Stein des Anstoßes, unter welchem sich aber der Ameisenhaufen eines noch viel größeren Übels verbirgt. Denn wenn sich eine Aussage aus dem Buch recht klar entnehmen lässt, so ist es die folgende:

Kapital zerfrisst den Lebensraum der Stadt, auch ganz unbekümmert und ohne viel Aufhebens. Es ist kein donnernder Beifall mehr nötig für den Untergang der Welt, um das Zitat aus Star Wars zu zweckentfremden. Dieser Untergang hat alle Zeit der Welt. Dampfwalzen und Putzkolonnen bewerkstelligen den Abriss, Menschen mit gut gefüllten Jute-Rucksäcken weichen aus und applaudieren schon allein dadurch in Abriss. Prosa. Marginalisierte Randgruppen werden vollautomatisch und scheinbar ohne jedes Ressentiment über denselben gedrängt. In Wien als Statthalter- und Crashteststadt wird Platz hegemonial eingezäunt, eingehegt und eingepflegt – in subtilere Lebensfeindlichkeiten, als wir sie gewohnt sind zu sehen.

So wirkt Abriss. Prosa wie eine Einübung in neue Sehgewohnheiten. Die Vergangenheit, die in Wien überall von den Fassaden herablächelt oder -zürnt, wird in analytischen Passagen mitbeobachtet. Die Ich-Figur steht dem unweigerlichen Verfall, der zwischen den Altbauten vor sich geht, kritisch, aber im Grunde genommen immer ohnmächtig gegenüber. Sie ist eine Randfigur im eigenen Buche. Und für Randfiguren wie sie gibt es keinen Platz zum Atmen. Und wer nicht atmen kann, kann nicht reden. Und ohne Rede gibt es kein Weiterkommen und keine Prosa im eigentlichen Wortsinne. Gerade aus dieser Haltung wird weitererzählt, wird (sich) kritisch Platz genommen.

Allein mit der Zeit und der Wiederholung der Handlungs- und Denkmuster ergibt sich so etwas wie eine Sympathie, wie eine Identifikation mit der Ich-Figur. Als Crashtestdummy läuft sie bezeichnenderweise immer wieder gegen Windmühlen an, von denen sie genau weiß, dass es keine Drachen sind. Es entspinnt sich ein Idiot*innenplot, der sich seiner selbst bewusst ist. Gutmensch*innen und Hipster*innen kritisieren? Das ist doch so 2012. Die Folgen von Platzräumung und Gentrifizierung sind darum aber nicht weniger wichtig, ja ganz im Gegenteil. Genauso wie es eine Banalität des Üblen auf der Welt gibt, gibt es auch eine Banalität von verschiedenen Gegenteilen davon. Sich selbst stilisiert die Erzählung aber niemals wirklich zum Held*innenplot. Vielmehr breitet sich in Sulzenbachers Buch so etwas wie eine nüchterne Bitterkeit ohne großen Beigeschmack aus: In den 46 Kleinstkapiteln zu je durchschnittlich 3–4 Seiten wird der Weltuntergang plump und ohne großes Ressentiment vor- und nachgezeichnet, wird um- und abgerissen. Dies geschieht mit ähnlicher Entgeisterung oder Begeisterung, wie man* eine Zahl von einer Exceltabelle abliest. Reibung entsteht aus dem Gegensatz von Handlungsunfähigkeit und drängendem Veränderungswunsch.

Ein Fertighaus, fertiggestellt

In der zweiten Hälfte des Buches schafft es dann die Unförmigkeit von Figur und Erzählung, sich vollends als bekannte Größe zu etablieren: Wenn man* die Ich-Figur erneut bei einer Afterhour in einer Ecke wiederfindet und dabei zusieht, wie sie in verrenkten Positionen einige viel zu scharfe Beobachtungen von sich gibt, so ergibt die Ungewohntheit ihrer bivalenten Haltung keine kognitive Dissonanz mehr, sondern einen scheinbar widersprüchlichen Zweitsinn: Wir erkennen die Figur schon allein dadurch, dass wir sie schon kennen. Wir wissen, wer sie ist, indem wir bereits seit längerem wissen, wie sie sich verhält. Der zerrissene Mensch wiederholt sich so oft, bis er wie von alleine zum vollständigen und glaubhaften Charakter gerät. Der Abriss hat sich erfolgreich in sein Gegenteil hineingebaut.

Trotz seiner gleichbleibenden Grundstruktur verändert sich das Buch aber in seiner zweiten Hälfte auch mMn. stilistisch, besticht dort gefühlt durch ein Element, das mehr und mehr in den Vordergrund rückt: den treffenden Satz. Immer wieder finden sich hier nämlich Sätze und Gedanken – nicht nur am Ende eines Absatzes, sondern auch mannigfaltig im Inneren –, die nicht mehr in Überheblichkeiten ausfasern, und die unwirkliche Glattheit der Figur mitspiegeln, vielmehr passen sie nun, in üblicherer Manier von Belletristik, wie die Faust aufs Auge, und konterkarieren damit seltsam den sich abbauenden Abrisscharakter des Buches: „Abendfüllende Filme waren keine Option mehr. Movie-Recaps genügten. In den fünfzehnminütigen Videos sieht man ausgewählte Szenen eines Films ohne Ton, während eine artifizielle Erzählstimme die Handlung in den Hauptpunkten zusammenfasst. Fast wieder Stummfilm.“ (S. 77)

Oder, noch viel deutlicher und dichter, eine idiotische Lieblingsstelle von mir: „Immer schon liebte ich die morbide, osterlaue Zwischenzeit. Der Winter stirbt und der Frühling ist noch nicht so weit. Die Natur scheint unentschieden oder eingeklemmt. Zweige knospen, Vögel spinnen. Die Menschen gehen willenlos, willenloser als sonst, auf den Straßen. Sie gehen in die falsche Richtung […]. Falsche Richtungen, wohin man geht. […] Im Garten hing an den ausgestreckten Vorderpfoten ans Brett genagelt der Hase zum Ausbluten und Ausnehmen. Einblick ins Innere des Hasen. MTV Ribs.“ (S. 114) Da fragt man* sich schon, wenn man+ auf höherem Niveau kritisieren mag, ob die Erzählung nicht inkonsequenter wird, je zusammenhängender und sinnträchtiger ihre Sätze werden.

Ebenso wie die Ich-Figur sich unweigerlich verfestigt, werden auch andere Figuren, Orte und schließlich auch Erzählmuster wie das gerade geäußerte greifbarer. Der Ich-Figur liegt scheinbar etwas an diesen Orten und Bekannten, sonst würde sie ja nicht immer wieder zu ihnen zurückkehren und sich nicht immer wieder die Mühe machen, all diese Zusammenhänge im Zusammenhangslosen zu erspähen. Ich-Figur und Welt sind „ein schurztragendes Skelett, dessen übriges, vom Kleidungsstück unbedecktes Gerippe dadurch erst nackt wird“ (S. 159). Die Zusammenhangslosigkeit schärft den Blick auf die disparaten Einzelteile. Der David von Donatello lässt fleischlich grüßen.

Dem Klischee von zeitgenössischen Aufmerksamkeitsspannen scheinbar wie zugeschnitten, liest man* sich in Abriss. Prosa von einem Absatz in den nächsten, von einem Kleinstkapitel ins nächste, und erwacht dann plötzlich, sanft oder grob geweckt, vor dem jeweils interesseweckenden Satz. So lässt es sich den Fließtext holpernd und lustig hinuntertreiben. Der Inhalt des Buches bleibt als verschwommenes Afterimage auf der Netzhaut über, wie eine Woche, die man nicht mehr ganz rekonstruieren kann: Partyszenen, Umzüge, verschlafene Afterhours am Donaukanal, Treffen in Cafés sowie teils mondäne Dachterrassenszenen oder verranzte Bodensitzungen am Platz fallen im gezeigten Panoptikon von Wien in denselben Topf. Die Milieus geben ein Bild von einer Teilgesellschaft, die nur beispielhaft für die Gesamtgesellschaft stehen kann. Auch hier wirkt das Bild einer Welt oder Bubble disparat. Konterkariert werden all diese romantischeren Erzählpassagen immer wieder von nüchtern gehaltenen kunst- und sozialgeschichtlichen Ausführungen, frankensteinisch dazugenäht.

                Trotz all dieser Vielleicht-Mängel (je nach Perspektive) ergibt sich ein erstaunlich homogener Flickenteppich. Darunter treibt der Lesefluss gleichmäßig dahin. Wo er am Anfang noch ausgiebig zum Kopfschütteln eingeladen hat, hat er bei mir am Ende nur ein stilles Lesen übriggelassen und vielleicht ein Kopfschütteln darüber, so viele wertvolle Sentenzen in einem Absatz zu erspähen.

Die anfängliche Unfertigkeit bleibt dann im besten Falle sinnträchtig im Hinterkopf über, im schlechteren Fall präsentiert sie sich als Erzählstimme, die im Laufe des Buches unweigerlich zu sich selbst hat finden können (oder eben müssen). Wo andere Erstlingswerke sich wohlgeordneten, publikumswirksamen Erzählstrukturen hingeben, traut sich Sulzenbachers Abriss, wohlgeformte Prosa lediglich als Füllmaterial zu verwenden, um darin kritischere und unangenehmere Erzählkonzepte anzubringen. Wohl am allerwenigsten bin ich persönlich daran interessiert, wie sich diese Konzepte im Folgenden weiterentwickeln können.

Und MTV Ribs – das muss erst mal jemand nachmachen.

 

Next
Next

Jenseits des Protests: Die Radikalität des kollektivistischen Zusammenlebens