Darf er das?

Chelsea-Boots am Tanzparkett: Zwei bewegende Abende mit Fazıl Say und Emine Sevgi Özdamar werfen Fragen nach kultureller Identität, dem Wohnen in Telefonzellen und J.S. Bach Vaterschaft im Jazz auf.

Fazıl Say, wie er sich gerade etwas Freches überlegt /// Carlos Suarez (c)

„Ehrt eure deutschen Meister! Dann bannt ihr gute Geister.“

Wagner hätte das zwar nicht in den Kram gepasst aber dieses Zitat aus seinem Meistersänger-Libretto, welches das Wiener Konzerthaus ziert, hätte am Dienstagabend getrost paraphrasiert werden können. Mit Fazıl Say trat ein „Meister“ auf, der eben türkisch war, die Geister, die er bannte, dafür umso besser: Mit ihm in den Berio-Saal kam die Autorin und Theaterregisseurin Emine Sevgi Özdamar, die aus ihrem autobiografischen Roman Ein von Schatten begrenzter Raum las, versetzt mit Klavierkompositionen Says.

Geschichten, die immer noch nicht oft genug gehört werden

Özdamars prosaische Bilder, eindrucksvoll bis humorvoll in ihrer Natur, erzählen eine hierzulande noch immer nicht laut genug gehörte Geschichte, die Tausende teilen, die ihre Heimat verließen und voller Hoffnung in eine europäische Idee in ein anderes Land kamen. Die Geschichte der Georg-Büchner-Preisträgerin zwischen türkischen Fischern, sprechenden Wänden und einem künstlerischen Leben in Telefonzellen des Nachkriegsparis brachte den Erdoğan-Kritiker und Bürgerrechtler Say dazu, seine sonst teils hochpolitischen Werke Yeni hayat »Neues Leben« Sonate op. 99, Ses. Ballade op. 40b, Nazim op. 12 Nr. 1, İstanbul'da Bir Kış Sabahı »Wintermorgen in Istanbul« op. 51b und Black Earth (Kara Topak) op. 8 selbst zu Geschichten werden zu lassen, an deren Wahrheit der vielfach ausgezeichnete Pianist seiner Gestik nach mit dem Leben zu hängen schien, ihnen jede musikalische Silbe aus dem Innersten heraus glaubend. Say spielt bewegt, in einer Haltung, die nicht zwingend ergonomisch empfehlenswert ist, aber in seiner ständigen rhythmischen Bewegung zur Musik nicht nur fesselt, sondern als Symbol dafür scheint, wie der 54-Jährige nahezu mit dem Instrument verschmilzt und sich jeder Note aufs Neue ergibt.

Hier ein Blick ins Publikum, dort eine rhetorische Handgeste, als ließe er das Klavier aussprechen oder als trüge er ein Gedicht vor und tatsächlich, wenn man sich mit ihm zuhörend in seine Musik vertieft, kann es einem so vorkommen, als würde Say an Stellen mitsingen, die Klänge des Flügels mit dem Mund nachformend.

Der Stern einer immerwährenden Suche nach der eigenen kulturellen Identität stand so auch über dem Folgeabend im Großen Saal des Hauses. Hier fanden die Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs in Says Interpretation eine neue kulturelle Heimat, von der sie nie etwas ahnten. Das klingt vielleicht ungewöhnlich, war es aber auch. Wann sieht man schließlich schonmal einen Pianisten, der mit der Sohle seiner Chelsea-Boots den Rhythmus einer der belebteren Variationen voll Freude auf dem Parkett mitklopft, als könne er sich nicht zurückhalten?

Den Jazz bei Bach gefunden

Auch sonst war Says Lesart des prestigereichen Werkes mindestens unkonventionell, dadurch aber möglicherweise passender als je zuvor. Der Wahlistanbuler zeigte, dass er jede technische Finesse dieses komplexen Werkes beherrscht, aber auch den Jazz in Bachs Variationen gefunden hat, sich das Werk zu eigen gemacht hat – eben 100 % Say. Mit einem Staccato aus der Hölle und einer Dynamik wie vom Himmel gegriffen erzählte der Mann, der laut Aribert Reimann „wie der Teufel“ spiele, an diesem Abend Geschichten – berührend, lustig oder tieftraurig – und holt diesen alten Prüfstein des Virtuosen-Olymps ins 21. Jahrhundert. Zum Schluss staunt man nicht schlecht, welch Spannung und Eigenleben er den einfachsten Kadenzphrasen der Bach’schen Musik entlockt.

Eine gekonnte Neuinterpretation zwischen Texttreue und Dynamik, die das Publikum mit Pfiffen, Bravorufen und anhaltendem Applaus in Ekstase schaukelte. Zugegeben, Says Interpretation ist nichts für Essentialst*innen und Fans einer barocken Stufendynamik, man muss drauf stehen. Aber wer ein offenes Ohr für moderne Lesarten großartiger Musik hat, muss Say einmal live sehen, um den eigenen Geist an dessen Feuer zu entfachen.

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