Schizophrener Dichter oder Dichter mit Schizophrenie? Ernst Herbeck
„Ich“ heißt das stumme Wort. Über die Rezeption der Dichtung Ernst Herbecks und die Ausbeutung psychisch kranker Menschen in der Kunst.
Es regnet finster minder her
Die Wolken ziehen wie sonst umher
Der Dichter will die Lyrik nicht.
umsonst der Mut und das Geschick.
Ernst Herbeck ist ein Autor, dessen Werk mir sehr am Herzen liegt. Vor einem Jahr habe ich begonnen, seine Gedichte zu lesen. Seither lese ich immer wieder Papers über ihn, kaufe die verschiedenen Gedichtsammlungen, die in ihrer Auswahl fast deckungsgleich sind, nenne ihn jeder flüchtigen Bekanntschaft als meinen liebsten österreichischen Schriftsteller. In meiner Faszination für Herbeck bin ich nicht allein. André Heller, Elfriede Jelinek und Ernst Jandl loben seine Dichtung, Wolf Biermann vertont drei seiner Märzgedichte. Er wird gefeiert als ein Revolutionär der Lyrik, als ein Sprachmagier; nahezu verehrt als ein Erleuchteter jenseits dessen, was dem gesunden Menschen zugänglich ist. So viel zur popliterarischen Rezeption. Im literaturtheoretischen Diskurs wird indes argumentiert, warum man Herbeck genau genommen keinen Autor nennen dürfte. Es wird mit Definitionen der Autor:innenschaft um sich geworfen, die außerhalb der entsprechenden akademischen Kreise eigentlich niemanden so wirklich interessieren. Ich frage mich, warum ihm in seiner Rezeption so viel Unrecht getan wird.
Ernst Herbeck aka Alexander
Ernst Herbeck wurde 1920 in Stockerau geboren, im Alter von 70 Jahren starb er in der Nervenheilanstalt Maria Gugging an den Folgen eines Herzinfarkts. Seine liebste Beschäftigung war das Schreiben, er rauchte viel, war sich stets seiner Andersheit bewusst. Seine Eltern seien an allem schuld, schreibt er einmal. Eine große Belastung war ihm seine Kiefer-Gaumen-Spalte, die trotz mehrerer Operationen lebenslang seine Sprechfähigkeit einschränkte. Mit 20 Jahren erfolgte die Aufnahme an der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien. Man stellte die Diagnose „Schizophrenie“. Herbeck wurde sechzig Insulinschocks unterzogen, einer qualvollen und, wie man heute weiß, wirkungslosen Therapieform, die irreversible Gehirnschäden herbeiführen kann. Ab 1946 war er dauerhaft hospitalisiert.
Die Dichter der Outsider Art
Neben Edmund Mach stellt Ernst Herbeck ein gern vergessenes schriftstellerisches Pendant zu den Vertretern der Gugginger Malerei dar. Während seiner 45 Jahre als Patient in Maria Gugging verfasste er hunderte kurze Texte, allesamt nach Aufforderung seines Psychiaters Leo Navratil. „Er stand dabei unter einem gewissen Druck und schrieb oft das erstbeste nieder, was ihm in den Sinn kam. Ohne diesen äußeren Anstoß hätte der Kranke aber kaum jemals Verse oder Zeichnungen erschaffen“ schreibt Navratil 1966 in einer Publikation, in der Herbecks Texte als Untersuchungsgegenstand für die Analyse von Sprache als psychophysische Tätigkeit bei Personen mit Schizophrenie dienen. Herbeck bleibt darin als Urheber unerwähnt, er erhält das Pseudonym Alexander. Von dieser Erstveröffentlichung seiner Texte erfährt er nicht. Navratil erkennt bald einen poetischen Wert in den Texten Alexanders. Er lässt den Patienten und Künstler Oswald Tschirtner zu einigen der Gedichte Bilder malen, legt Herbeck wiederum als Inspiration Zeichnungen Tschirtners vor. 1979 publiziert er diese Zusammenarbeit unter dem Titel Bebende Herzen im Leibe der Hunde. Herbeck schreibt. Die Verwahrung, Verwaltung und Veröffentlichung der Niederschriften wird von seinem Psychiater übernommen.
Dichter
Je größer das Leid
Desto kleiner der Dichter
Umso härter die Arbeit
Umso tiefer der Sinn
Patient
Je größer das Unheil
Desto härter der Kampf
Umso ärger der Verlust,
desto irrsinniger die Verdammten
Künstler oder schizophren?
Die Verteidigung der Legitimität Ernst Herbecks als Künstler weist immer auch eine Infantilisierung Herbecks, oder aber eine Fetischisierung des Schizophrenen auf. Es fallen Wörter wie „wundersam“ und „geheimnisvoll“. Es ist das Erbe eines uralten Genie-Wahnsinn-Paradigmas, in dem der psychisch Kranke als eine Art Zauberwesen stilisiert und seine Inkohärenz mystifiziert wird. In den diversen Veröffentlichungen der Texte Herbecks werden die Transkriptionen seiner handschriftlichen Texte inklusive aller grammatikalischen Fehler, syntaktischen Ungereimtheiten, doppelten Leerzeichen und außergewöhnlich platzierten Punktationen abgedruckt. Man kennt die bewusste Aneignung ausgewählter Attribute eines solchen schizophrenen Sprachzerfalls durch psychisch gesunde Künstler:innen aus der modernen Dichtung. Solche avantgardistisch anmutenden Elemente sind von Herbeck selbst nie absichtlich, nie als Stilmittel verwendet worden. Ihre Frequenz variiert stark, je nach aktuellem Stadium seiner Erkrankung. Zahlreiche seiner Texte sind fehlerfrei, ein paar sind nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Am meisten zu faszinieren scheinen aber jene Texte, die gerade ein richtiges Maß an Verworrenheit aufweisen, um zwar anders und irgendwie speziell zu wirken, aber immer sollen sie der Leser*innenschaft grundsätzlich erschließbar bleiben. Das macht Herbecks Legitimität als Autor wiederum angreifbar. Herbecks Erfolg komme dann ja von allem, was er nicht kann, lese ich bei Gregor Hens. Seine Schizophrenie verbiete ihm einen positiven poetischen Prozess, seine schriftstellerische Leistung sei weit von einer Genialität entfernt. Nichts als die Schwierigkeiten, die ihm seine Krankheit bereitet, könnten Herbeck von seinem eigentlich strikten und konventionellen Anspruch an die Dichtung abbringen und ihn das erzeugen lassen, was von außen dann als genial gelobt werde – kurzum, seine Defizite sind es, die sein Werk so interessant machen, eigentlich aber hätte Herbeck gern wie Goethe gedichtet. Man vergisst oft, dass Herbecks Dichtung ein Lektorat verwehrt bleibt und er, wenngleich sein Psychiater ihn vor und nach dem eigentlichen Schreiben in seiner Autorschaft unterstützte, in diesem Sinne auf sich allein gestellt war. Dass die Autorenfigur Alexander ohne das Zutun Leo Navratils nicht existent wäre, findet wiederholt Erwähnung im literaturtheoretischen Diskurs um die Legitimität der Autorschaft Herbecks. Nie würde man Ähnliches über Max Brod und Franz Kafka lesen.
Die Trauerweide am Bachrand steht,
So schön, wenn sie im Winde weht.
Am Schauer vorbei wächst sie ab.
Und steht auch manchesmal
neben dem Grab.
Die Weiden hängen an ihr herab.
die trauern von früh bis spät.
Der Gedichteschreiber
Kein Dichter, ein Gedichteschreiber ist Ernst Herbeck im ersten Google-Resultat. Sucht man dann nach „Gedichteschreiber“, werden neben einigen Ghostwriting-Inseraten auch eine Handvoll Websites angezeigt, die KI-generierte Lyrik auf Befehl verfassen. Ein Vergleich von Herbecks Texten mit maschinenerzeugten reicht tatsächlich weit zurück. Bereits vor ihrer ersten Publikation, als Navratil seinem Freund Alfred Bader einige Texte Herbecks vorlegt, ist dieser an maschinengemachte Gedichte erinnert, nennt Herbecks Lyrik willkürlich, langweilig, inhaltslos. Navratil selbst spricht von einer „Befehlsautomatie“ Herbecks, auch Gregor Hens stellt einmal explizit diesen Vergleich an: Herbecks Gehorsam und seine Abhängigkeit von Navratils Anweisungen würden eine solche Assoziation nahelegen. Herbeck ist, wenn man diesen Gedankengang nun weiterführt, lediglich die Exekutive in einem größeren Ganzen, deren einzige, eigene Intention im Schreiben es ist, Navratil zufriedenzustellen – und man ist an eine moderne KI erinnert, die nichts als den eigentlichen Urheber – den Verwalter, von dem der Input ausgeht – zufriedenstellen möchte. Von der dehumanisierenden Implikation dieses Bildes abgesehen, wird einem seine Absurdität spätestens bewusst, wenn man Herbeck liest. Man mag seine Texte für langweilig und inhaltslos halten, willkürlich sind die Aneinanderreihungen der Wörter in ihnen aber eben nicht. Dem frei Assoziativen liegt eine zutiefst persönliche Historie zugrunde, und wenn eine Lyrik von der Assoziation als Mittel lebt, dann die Herbecks. Das macht sie überaus menschlich. Abgesehen davon stimmt es nicht, dass Herbeck lediglich das geschrieben hätte, was der von ihm vermuteten Erwartung Navratils entsprach. Oft ignoriert er die strikten Vorgaben offensichtlich komplett, widmet sich ganz anderen Themen und macht, was er will.
Der Dichter
Herbeck war nicht zuletzt ein Autor, der auf das Schreiben in existenziellem Ausmaß angewiesen war. Aufgrund seiner Kiefer-Gaumen-Spalte und ihrer mehrfachen Operationen war seine Sprechfähigkeit stark eingeschränkt und das Schreiben somit ein wichtiges Sprachrohr für ihn als Psychiatriepatient. Ihn keinen Autor nennen zu wollen, erfordert auch nach konventionellen Definitionsansätzen absurde Gedankengymnastik – als würden bei Ernst Herbeck gerade aufgrund seiner Schizophrenie andere literaturtheoretische Analysemodelle greifen. Gerade hier sollen wir nun von der Freiheit der Kunst und vom „Tod des Autors“ absehen, gerade jetzt die geheimnisvolle Kraft, aus dem die kunstschaffende Person ihre Inspiration und Energie schöpft, herunterbrechen und sezieren – und plötzlich wissen alle ganz genau, was Literatur ist. Oder aber man überhöht all jenes an seiner Lyrik, aus dem seine Krankheit spricht, adaptiert das Spaßige daran in lustvollem Ausmaß und pervertiert Alexander zu einem Schizo-Revolutionär nach postmodernem Geschmack. In jedem Fall wird seine Unmündigkeit weitergeführt und auf den Bereich erweitert, der ihm zu Lebzeiten die meiste Freiheit einräumte. Dabei geht die Schönheit seiner Kunst unter – mir bleibt nur, diese zu unterstreichen. Alexander ist theatralisch und sehr direkt, melancholisch und unbeirrbar zugleich. Die Herausforderungen, die Herbeck in seiner Jugend sowie im Zuge seiner psychiatrischen Behandlung durchlebte, spiegeln sich unmittelbar in seinem Werk wider. Es gibt Auskunft über die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs und die Vorgänge in der Klinik Maria Gugging über mehrere Jahrzehnte hinweg. Aus fast jedem der Texte spricht eine ruhige Trauer, eine sanfte Kapitulation, die ich schätze, weil sie seine Lyrik nahbar macht – das vermisse ich sonst so oft an dieser Gattung. Es ist schöne Literatur, finde ich, weder trotz noch wegen der Umstände des Autors. Literatur ist es aber unweigerlich.
Das Gebet der Stunde ist gekommen.
„Ich“ heißt das stumme Wort. Ich
sollte zum erschießen gehen und ist
in Zukunft unser Hort.
Vorüber ist das Wehgeschrei. Für ich so
gern geschehen, Nur Dumme geben
sich dann frei und wollen nun schon
gehen.