Ein Tiefpunkt zweier Brüder

Was tun, wenn alles aussichtlos trübselig erscheint und vermutlich für immer so bleiben wird? Der einsame Westen im Akademietheater zeigt zwei ewig streitende Brüder zwischen hochprozentigem Alkohol und Marienfiguren.

(c) Matthias Horn

Ein Geschwisterduo aus dem kleinen irischen Ort Leenane (heute: Leenaun) bestehend aus dem brutalen, derben Coleman (Roland Koch) und seinem hinterhältigen, pedantischen Bruder Valene (Michael Maertens) hat soeben den eigenen Vater beerdigt. Beide kommen vom Begräbnis nach Hause und tun was? Natürlich zur Flasche greifen. Dem schließt sich auch der stets besorgte, krisenumtriebene Pater Welsh (Itay Tiran) an und vermag die dauernden Streitigkeiten der Brüder nur notdürftig zu unterbinden - was vermutlich auch am immer weiter steigenden Alkoholpegel liegt. Als zusätzlich noch Girleen (Lili Winderlich) auftaucht, die im Dorf für die Alkoholversorgung zuständig zu sein scheint, entspinnt sich zwischen den vier Personen ein kurzweiliger, zwar lustiger, aber doch vor allem im Nachklang bedrückender Abend.

Bitterkeit und Isolation

Martin McDonagh (*1970), zuletzt im Fokus als Regisseur des oscarnominierten Film Banshees of Inisherin, ist bekannt als der „irische Tarantino des Theaters“. Seine Werke zeichnen sich durch beinah grotesk-absurde Gewaltbereitschaft aus (sowohl verbal als auch körperlich) und hinterlassen trotz urkomischer Dialoge einen fahlen Beigeschmack der Verzweiflung. Das Stück Der einsame Westen, Höhepunkt von McDonaghs Leenane-Trilogie, zeigt in sieben Szenen, was eigentlich bereits von Anfang an klar ist: dass sich in Leenane niemals etwas ändern wird und die Bewohner*innen in einem Hamsterrad aus Einsamkeit und Frustration gefangen sind.

Wer sich nicht zerstritten oder gegenseitig umgebracht hat, wählt entweder den Selbstmord oder verlässt den Ort ohne Aussicht auf eine Rückkehr. Theaterwissenschaftler Patrick Lonergan weist auf die Verbindung zu John Millington Synges Theaterstück The Playboy oft the Western World (1907) hin, an dessen Titel Martin McDonaghs Einsamer Westen angelehnt ist. Sowohl Synge als auch McDonagh skizzieren den irischen Westen als großartige und wunderschöne Landschaft, die jedoch wirtschaftlich und gesellschaftlich für ihre Einwohner*innen wenig Lebensqualität zu bieten hat. Um mit der nicht nur finanziellen, sondern auch intellektuell-kulturellen Verarmung umzugehen, werden nur zwei Möglichkeiten aufgezeigt: emigrieren oder sich verbittert damit abfinden. Es überrascht nicht, dass sämtliche Charaktere von Vereinsamung und Unzufriedenheit gezeichnet sind.

Gespaltenes Irland

Wer sich mit Martin McDonaghs Theaterstücken befasst, begibt sich zwangsweise auch auf den spannenden Pfad der irischen Historie. Oft provokativ und definitiv nicht in politisch korrekter Sprache werden kontroverse Stoffe verarbeitet, wie etwa die satirische Geschichte eines gewaltsamen Untergrundkämpfers der IRA (The Lieutenant of Irishmore, 2001). Auch wenn die IRA, die sich als legitime Fortsetzung der Armee der irischen Republik aus Zeiten des Osteraufstandes 1916 und des irischen Unabhängigkeitskrieges 1919-21 sah, seit 2005 offiziell den bewaffneten Kampf für beendet erklärt hat, ist der Konflikt nach wie vor aktuell und vorhanden, wie sich beispielsweise bei den Brexit-Verhandlungen über die Grenze zwischen Nordirland (dann nicht mehr EU) und Irland (weiterhin EU- Mitglied) gezeigt hat.

Gerade seit dem 3. Februar 2024 mit der Wahl der irischen Nationalistin Michelle O´Neill zur ersten Ministerin Nordirlands, von der irisch-republikanischen Sinn Féin-Partei, bleibt abzuwarten, in welche politische Richtung sich die Zukunft der gesamten Insel weiterentwickelt. Aber nicht nur politische, auch religiöse Zerwürfnisse prägen das Land und so wird in Martin McDonaghs Stücken natürlich Irlands Katholizismus thematisiert. Pater Welsh zeigt durch seine Figur, dass auch diejenigen schuldig sein können, die nur zusehen und nichts gegen bestehende Zustände unternehmen – eine klare Kritik am jahrelangen totgeschwiegenen Kindesmissbrauch innerhalb der katholischen Kirche, der übrigens in einer Szene auch ganz offen in einer beißenden Nebenbemerkung angesprochen wird.

Familie sucht man sich nicht aus

Patrick Lonergan hebt auch das offensichtliche Interesse McDonaghs an Familienbeziehungen hervor und verweist auf dessen Analogien zum amerikanischen Autor Sam Shepard, insbesondere zum Drama True West (1980). Auch True West handelt von der Beziehung zweier Brüder, die in einer permanenten Atmosphäre der Gewaltsamkeit und Bedrohung durchs Leben gehen und dabei Beobachtungen über die menschliche Existenz und auch deren (erzwungene) Abgründe anstellen. So, schlussfolgert Lonergan, sei vielleicht die Gewalt und dauerhafte Streitlust zwischen den Brüdern Coleman und Valene eine perverse Form von brüderlicher Zuneigung, ausgelöst durch angestaute Einsamkeit und Frustration.

Gegen Ende des Abends kommt es zu einem fast berührenden Versuch, aufeinander zuzugehen – auch wenn das in diesem Fall bedeutet, dass Valene und Coleman sich gegenseitig all ihre Grausamkeiten der letzten Jahrzehnte beichten und sich natürlich auch an dieser Stelle gegenseitig übertrumpfen wollen. Vielleicht wird ihnen zunehmend klar, dass sie, außer einander, niemanden mehr haben: Girleen ist verschwunden, den eigenen Vater hat Coleman ermordet, was Valene im Ausgleich gegen das gesamte Erbe als einen Unfall bezeugt und auch Pater Welsh hat das Leben schließlich nicht mehr ertragen und ist „ins Wasser gegangen“. Was ihnen bleibt, ist nur der eigene Bruder.

Beklemmende Handlung, begeistertes Publikum

Regisseurin Mateja Koležnik hat bereits mehrere Stücke von Martin McDonagh inszeniert und auch in der neuen Inszenierung des Einsamen Westens im Akademietheater zeigt sie ihre Fähigkeit, besonders englischsprachige Autor*innen des 20. Jahrhunderts auf die Bühne zu holen. Das vierköpfige Ensemble trägt wunderbar durch den Abend, allen voran Koch und Maertens als großartige Verkörperungen beider Brüder. Zwischen auf- und zuklappbaren Wänden (Bühne: Raimund Orfeo Voigt und Dimitrij Muraschov) streiten, und fluchen und betrinken sie sich, was das Zeug hält.

Coleman hat zwei Schwachstellen seines Bruders längst ausfindig gemacht, nämlich die heißgeliebten Marienfiguren und ein neu gekaufter kleiner Ofen. Valene straft die Bedrohung eben jener Schätze mit ekligem Geiz und Kleinkrämerei. Pater Welsh ist überfordert mit dem Training der allzu aggressiven Fußballmädchenmannschaft und hält sich prinzipiell im Großen und Ganzen für einen Versager – auch er ist gefangen im ewig deprimierenden Kreislauf von Leenane. Einzig und allein Girleen ist nicht nur eine der wenigen sympathischen Figuren McDonaghs, sondern schafft es vor allem, sich einen kleinen Hoffnungsschimmer zu erhalten:

„At least when you´re still here, there´s the possibility of happiness.“

Ob ihre Hoffnung belohnt wird, bleibt offen. Das Publikum jedenfalls spendet begeisterten und außergewöhnlich langen Applaus für diesen Abend voller kleiner Schockmomente, herzhafter Lacher und toller Unterhaltung. Hinter allem besoffenen Lallen, den bizarren Dialoge und dem beißenden Zynismus versteckt sich schlussendlich eine durch und durch tragische Geschichte und so lässt einen der Abend trotz aufgeheizter Stimmung nicht so schnell wieder los.

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