Ein Bach-Superstar?

Wenn statt alten, grantigen Wiener*innen reihenweise junge Jeans-Klassiker*innen zum Klavierrezital kommen: Eine Hype-Show oder wissen es die jungen besser? Víkingur Ólafsson im Konzerthaus.

Der elegante Isländer am Steinway /// Markus Aubrecht (c)

Bachs Goldberg-Variationen, eine Arie mit 30 Veränderungen, ist ein monumentales Werk von beängstigender musikalisch und intellektueller Komplexität, voll mit anspruchsvollsten Kontrapunkten, Kanons und Inversionen, die aus der erhabenen und kindlichen Gelassenheit der eröffnenden Arie herauswachsen. Das Wunder der Variationen liegt nicht in dem, was sie zeigen, sondern in den mathematischen Metriken, die sie verbergen. Sie bieten das beste Beispiel für eine Musik, die für die Unterhaltung des musikalisch kompetenten und anspruchsvollen Geistes konzipiert ist.

Daher scheinen sie spätestens seit Glenn Gould für einige Pianist*innen eine Art Pflichtaufgabe geworden zu sein, eine Fahne, die sie hochhalten können, um zu beanspruchen, dass sie, wenn auch nichts anderes, zumindest ein Zertifikat dafür haben, dass sie ihr Instrument gut beherrschen und es wert sind, respektiert zu werden.

Als also Víkingur Ólafsson, am Höhepunkt einer Welle, die durch eine weit verbreiteten Deutsche-Grammophon-Aufnahme (sogar bei Thalia und Müller erhältlich) getragen wird, ein großteils junges Publikum, oft in Jeans und Sneakers gekleidet, ins Konzerthaus lockte, konnte man befürchten, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Das letzte Mal, dass diese demografische Situation herrschte, nämlich bei Khatia Buniatishvilis Klavierabend letztes Jahr artete der Abend immerhin zu einer ziemlichen Zirkusshow aus.

Ein wildes auf und ab der Gefühle

Ólafsson ging diese Aufgabe jedoch mit äußerster Präzision und Ernsthaftigkeit an. Von Show keine Spur. Dabei ging er die Aufführung keineswegs historisierend an: mit einer “die Musik für sich selber sprechen lassen”-Philosophie hielt er sich strikt an den Notentext. Diese heutzutage vorherrschende und vergleichsweise bequeme Praxis, bei vorromantischer Musik sich selbst nur wenig als Interpret in die Aufführung einfließen zu lassen, kam bei diesem Publikum jedoch sehr gut an.

Mit ganz viel Ruhe und mystischer Intimität eröffnete er die anfängliche Arie; von da an begab er sich auf eine abwechslungsreiche Reise der Gefühle. Mit jeder Variation sprang er vom Lebhaften zum Leidtragenden, mit perfekter Technik, ganz ohne Legato. Fürsorglich kämpfte er sich durch die musikalischen Emotionen, die Motive konnten immer leicht von der rechten zur linken Hand und wieder zurückspringend verfolgt werden. Die Entspannung der am Ende wiederkehrenden Arie nach dem Feuer und der Flamme der letzten zwei Variationen unterstrich diese Gefühlsachterbahn. Sie wirkte wie der Anbruch einer ruhigen, mondhellen Nacht nach einem stürmischen Abend, ein Moment den die Zuhörer*innen beim Verlassen des Konzerthauses im echten Leben nochmal zu spüren bekamen.

Obwohl Ólafsson auf seiner derzeitigen Tournee ausschließlich die Goldberg-Variationen spielt, und das über 80 Mal in einem Jahr, vermittelte er den Eindruck, nur für uns - dieses besondere Publikum - zu spielen. Es ist ein Merkmal, dass klassischen Musiker*innen heutzutage eher selten gelingt: den Zuhörer*innen davon zu überzeugen, etwas Besonderes zu sein. Die fünfminütigen Standing Ovations bekräftigten diesen Eindruck.

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