Die Kunst der Immersion

Komm rein, setz dich - Bühne, Publikum, Geradeausschauen? Pff, alles dasselbe. Eine Liebeserklärung ans immersive Theater; eine Entgrenzung von Raum, Zeit und Realität.

Wir Hunde (Us Dogs): Frederik von Lüttichau, Siri Nase © Erich Goldmann

Nun stell dir vor, du besucht ein Theater. Du weißt, was dich erwartet. Guckkastenbühne, Proszenium, Zuschauerraum, Foyer.  Alles abgegrenzt, definiert und berechenbar. Was aber, wenn diese Grenzen irgendwie verschmelzen könnten? Wenn nicht mehr ganz klar ist, wer welche Rolle einnimmt, wenn das Publikum und die vierte Wand plötzlich verschwinden, wenn der ganze Raum zum Spiel, zum Stück, zur Bühne wird? Du findest dich plötzlich mitten im Geschehen wieder und nimmst aktiv am Lauf der Dinge teil. Ich begrüße dich zum immersiven Theater!

Physik und Symbol

Laut Duden hat der Begriff Immersion vier Bedeutungen. In der Physik beschreibt er das „Einbetten eines Objekts in eine Flüssigkeit mit besonderen lichtbrechenden Eigenschaften“. In der Astronomie beschreibt er den „Eintritt eines Himmelskörpers in den Schatten eines anderen“. Allgemein bezieht er sich auch auf eine „Methode des Fremdsprachenunterrichts, bei der die Schüler von Anfang an in großem Umfang in der Fremdsprache unterrichtet werden“.  Im EDV-Bereich bezeichnet er das „Eintauchen in eine virtuelle Umgebung“.

Nun könnte man unter Einfluss einer Definitionspedanterie ewig so weitermachen und die perfekte Definition des Begriffs Immersion zusammenstellen, doch schon der zweite Fund bietet eine zufriedenstellende, passende Definition: Das Oxford Dictionary definiert Immersion als „the state of being completely involved in something“ und bietet uns einen passenden Ausgangspunkt für die weitere Analyse. Während der Immersion verwandelt sich die Theaterrealität in deine Realität, legt sich über die Egoperspektive und wird gleichzeitig zu einer Hyperrealität, in der sich Fiktives und Reales vereinen und kaum unterscheidbar sind. Das immersive Theater schafft damit eine eigene Wirklichkeit mit Zeichen, Symbolen und Wahrheiten. Immersion führt zu einer rauschartigen Selbstvergessenheit, einem tranceartigen Zustand, der bei Kino- sowie Theaterbesuchen auftreten kann und welchen Videospiele gezielt herbeizuführen versuchen. Das „Ich“ geht in den Szenen, Bildern und Eindrücken verloren und hinterlässt die Beobachtung. Man vergisst sich selbst für einen Moment, wird zu einer*m anderen und wenn wir ehrlich sind, haben wir uns nicht alle schon mal gewünscht jemand völlig anderes zu sein?

Geschichtliche Ausbrüche – von Brecht zu Grotowski 

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Versuche aus der klassischen Form des Theaters auszubrechen und die übliche Trennung zwischen Schauspieler*innen und Zuschauer*innen aufzubrechen. Einer dieser Versuche kommt vom französischen Schauspieler und Dramatiker Antonin Artaud. Mit seinem Theater der Grausamkeit, das leider nie umgesetzt wurde, strebt er die Auflösung von Barrieren an, indem er z.B. das Publikum in der Mitte des Raumes platziert und die Darsteller*innen rundherum spazieren lässt. Artaud meinte, dass die Zivilisation die Menschen in kranke und unterdrückte Kreaturen verwandele und dass es die wirkliche Funktion und Aufgabe des Theaters sei, diese Unterdrückung loszuwerden und die instinktuelle Energie des Individuums zu befreien. Er schlägt vor, die imaginäre, vierte Wand zu entfernen und plädiert für eine Produktion von mythischen Spektakeln. Diese Spektakel kombinieren verbale Beschwörungen, Stöhnen, Schreie, pulsierende Lichteffekte, übergroße Puppen und verschiedenartige Props. Ziel sei es nicht zu beschützen, sondern zu entblößen.

Ein weiterer Ansatz stammt von Bertold Brecht. Sein episches Theater arbeitet mit Verfremdungseffekten und versucht das Publikum in einen Zustand des Reflektierens zu bringen. Kurz gesagt geht es bei Brecht um das Intellektuelle, das Nachdenken, das Hinterfragen, das Sinnieren und Analysieren. Ein dritter Akteur, der den Versuch des Ausbruchs wagt, ist Jerzy Grotowski mit seinem Armen Theater.  Grotowski entfernt redundante Aspekte der Aufführung, reduziert sie so weit, dass schließlich nur Publikum und Schauspieler*innen als essenzielle Bestandteile zurückbleiben. Diese Ausbrüche aus der klassischen Form sind Verkörperungen des Zeitgeistes. Lustigerweise mündeten diese ‚Sturm und Drang‘-Phasen, wie ich sie mal nenne, immer wieder in der Guckkastenbühne. Aber warum? 

Der Germanist und Theaterwissenschaftler Günther Heeg identifiziert drei Formen der Szene: die Szene als Schauplatz, die Szene als Bild und schließlich die Szene als Handlung. Bei allen diesen Formen erkennt man, wo die Inszenierung endet und damit die Wirklichkeit beginnt. Die Szene als etwas klar Erkennbares vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Die klassische Form des Theaters ermöglicht, dass ich mich in meinem bequemen Sessel zurückzulehnen, mich vom Geschehen distanzieren und alles beobachten kann. Damit wird das Publikum, wie Heinrich Popitz es beschreibt, zur „ausschlaggebenden Hilfstruppe der Machtnahme“. Je größer die Neutralitätsgruppe, die Gruppe der Nicht-Betroffenen, der Zuschauer*innen, desto wahrscheinlicher ist die Entstehung von extremen Machtverhältnissen. Man könnte nun spekulieren und davon ausgehen, dass das immersive Theater die Passivität des Publikums in eine Aktivität verwandelt. Das Immersive holt sie aus den Tiefen der Neutralität und zieht sie an die Oberfläche, wo sie sich einer Konfrontation nicht entziehen können, wo sie ungeschützt und entblößt sind und sich dem stellen müssen, was sie bis jetzt ignoriert, gehasst oder auch gefürchtet haben. Das kann Angst auslösen, denn wird klammern uns oft an das Vertraute und Familiäre, in diesem Fall schützt uns der Guckkasten vor einer direkten Konfrontation. 

Landschaften der Theaterwelt 

Das Format des immersiven Theaters hat in den letzten Jahren an beachtlicher Beliebtheit gewonnen. Tatsächlich gibt es so viele Akteur*innen, dass man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Zwei sollen hier vorgestellt werden. Nehmen wir zuerst das dänisch-österreichische Performancekollektiv Signa. Gegründet von Arthur und Signa Köstler, ist es bekannt für seine begehbaren Hyperrealitäten und betretbaren Parallelwelten. Mit ortspezifischen Sets lädt Signa zu Exploration und Interaktion ein. Man findet sich in höllischen Nachtclubs in CLUB INFERNO (2013), interagiert mit Hundemenschen in US DOGS/WIR HUNDE (2016) und besucht Ausstellungen wie PAST WHATEVER SKY (2022), welche in Grenzräume und Schattenwelten führen. Bei den Wiener Festwochen präsentiert das Kollektiv heuer sein neues Projekt DAS LETZTE JAHR (2025), welches eine sechsstündige Zeitreise in das eigene letzte Lebensjahr ermöglichen soll. Signa verbindet Archetypen, Improvisation und Symbole, um Strukturen der Macht, der Erniedrigung, der Identität und des Verlangens zu untersuchen. 

Das Theaterensemble Nesterval beschreibt sich auf seiner Website als „queeres Volkstheater, das Klassiker der Literatur- oder Theatergeschichte in die Jetztzeit übersetzt, überzeichnet und dekonstruiert.“ Hinter ihren Stücken stehen große postmoderne Themen wie Diversität, Queerness und Identität. In der Immersion tritt das Ensemble in einen kreativen Dialog mit dem Publikum und schafft somit Raum und Türen für einen authentischen Austausch. Von Identitätssuchenden in WHERE THE F*** IS ALICE? (2017), Bergbauerndörfern in DAS DORF (2018) und Corona Live-Theater mit DER KREISKY-TEST (2020) bis hin zu Verfolgung und Ermordung im NS-Regime in DIE NAMENLOSEN (2023) und einer modernen Johann-Strauss-Operette mit FÜRST*IN NINETTA (2025) werden verschiedenste Themenbereiche erforscht. Besucher*innen bewegen sich durch eine Reihe von existenziellen, politischen, historischen und sozialen Themen und werden schließlich, sei es direkt oder indirekt, dazu aufgefordert in eine Interaktion mit dem Stoff zu treten. Die Immersion ermöglicht damit auch Partizipation an Wissen und Erfahrungen.

Zukunftsgedanken 

Durch einen spielerischen, a play in a play, videospielartigen oder auch serienartigen Zugang gelingt es beiden Kollektiven immer wieder eine Atmosphäre zu kreieren, die das Gefühlspektrum von lost in space, pyrrhischen Siegen, Ekstase, Lust, Liebe, Verzweiflung abdeckt und Wortkreationen wie Weltgeschehennausea veranlasst. Die Immersion par excellence ist gleichzeitig ein Eintauchen, aber auch ein Auftauchen. Ein Einschlafen, aber auch ein Wachwerden. Ein cul-de-sac, aber auch ein Ausweg. Mit dem immersiven Theater öffnen sich Türen, die zuvor verschlossen waren. In einem naiven Versuch die Zukunft zu erahnen, sage ich, dass neue Technologie und Innovationen uns bald in eine immersive Welt führen könnten, ich sage auch, dass man sich die Frage nach dem schmalen Grat zwischen Konstruktion und Realität stellen sollte. Die Frage nach der thin line zwischen Glauben und Wahrheit. The thin line of immersion sollte man das wohl nennen. 


Quellen

https://www.duden.de/rechtschreibung/Immersion

https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/immersion

https://ulb-dok.uibk.ac.at/ulbtirolhs/content/titleinfo/9997272

https://www.britannica.com/topic/Theatre-of-Cruelty

Heeg, G., 1999: Szene. S. 251–269 in: H. Bosse & U. Renner (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein wissenschaftliches Sprachspiel. Freiburg/Br.: Rombach. 

Popitz, H., 1992/2009: Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr Siebeck

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