Der Vampir als wandelndes Geschichtsbuch

Adena Jacobs inszeniert Nosferatu im Burgtheater. Handlungsarm aber bedeutungsschwer wird die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums auf eine harte Probe gestellt.

(c) Susanne Hassler-Smith

„Wenn man gegen Ungeheuer kämpft…“

Ein gespaltenes Frauengesicht wird auf die Bühnenleinwand projiziert. Im größer werdenden Spalt wird das Gesicht einer anderen Frau sichtbar, welches hindurchzubrechen versucht. Ein Teaser und eine Origin-Story voller vergangener und zukünftiger Gewalt und Leid.

Johanna Harker reist von Wien in die Karpaten, um dort ihre neue Stelle in einem als Sanatorium umfunktionierten Schloss anzutreten. Dort streift seit Jahrhunderten die Gräfin, ein Vampir, umher, und erlebt ihren Aufenthalt und den Lauf der Weltgeschichte als eine Prozedur aus Gewalt und Leid. Die Ärzt*innen spezialisieren sich auf Ungeheuer, und versuchen mit unmenschlichen Methoden, diesen Wesen das Monströse auszutreiben, um sie wieder “zurück zur Menschlichkeit” zu führen.

Nosferatu: Monologe des Grauens

Viel mehr kann man zur Handlung des Stückes nicht sagen, denn es passiert nicht viel. Trotz mehrerer Darsteller*innen sprechen die Figuren nie miteinander, sondern halten nur lange Monologe. Währenddessen laufen auf der Bühne leidvolle Operationen oder akrobatische Performances in schwindelerregenden Höhen ab, zeitweise schlurft die Gräfin im Hintergrund umher. Zwischendurch werden Zitate und Szenen aus Bram Stokers Roman Dracula eingeworfen. Gerade weil der Text so bedeutungsschwer ist und das Bühnenbild visuell opulent und in konstanter Bewegung, wird die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums auf eine harte Probe gestellt. Notwendige Abwechslung durch Dialoge oder gar vordergründige Handlungen fehlen.

Doch das Konzept des Bühnenstücks Nosferatu ist durchaus faszinierend. Diverse Szenen, Themen und Schauplätze aus Dracula werden miteinander vermischt: Das Schloss wird zu Doktor Sewards Sanatorium, dann zu Lucy Westenras Schlafzimmer (Draculas erstes Opfer in London) und Renfields Zelle (hier ein leidender Werwolf anstatt Draculas Sklave). Ständig wird eine schaurige Stimmung durch die Lichtsetzung, die Musik, die Kostüme und das Bühnenbild vermittelt. Dabei ist es aber vor allem der erste Akt, der für ordentlich Schauer und Gänsehaut sorgt.

Gleichzeitig folgt das Stück keiner klaren zeitlichen Kontinuität; Jahreszahlen wie 1907 (die erste allgemeine, aber auf Männer begrenzte Wahl in Österreich-Ungarn), und Ereignisse wie der erste Weltkrieg und der Holocaust werden in einen Topf geworfen. Zeit im Stück ist wibbly-wobbly, ein kausaler Loop, der nie durchbrochen wird. Unrecht wird zu Unrecht wird zu Unrecht, und man fragt sich, ob die Oberärztin und die Vampirin nicht doch ein- und dieselbe Person sind. Dieselben Phrasen werden nicht nur von beiden gesprochen, sondern auch immer wiederholt. Als Zuschauer*in ist man bald desorientiert und überfordert, dem Gesprochenen zu folgen.

Bibiana Beglau /// (c) Susanne Hassler-Smith

Für zusätzliche Verwirrung sorgen fehlende Namen und optische Ähnlichkeit der Darsteller*innen. Selbst im Begleittext fehlen Rollenzuschreibungen für die Schauspieler*innen. Die Bühne dreht sich konstant, wechselt fließend die Szenerie, vom Operationssaal hin zu Lucys Schlafzimmer, zu den Toren des Schlosses, bis zum Operationssaal. Schlussendlich bleibt bei dem 2-Stunden-Stück die Frage offen, wer eigentlich die wahren Monster sind: Ein Thema, das vor allem durch die Facette, dass fast alle Rollen von Frauen gespielt werden und somit das stereotype Klischee um Jäger und Opfer einen feministischen Spin erhält, bereichert wird.

Ein Archiv für Grauen und Gewalt

Regisseurin Adena Jacobs und Autorin Gerhild Steinbuch wollten dem Vampirmythos einige neue Aspekte hinzufügen: So etablieren sie den*die Vampir*in als Zeitzeug*in, als wandelndes Geschichtsbuch und Archiv für Gräueltaten. „Ich erinnere,“ sagt die Gräfin, gespielt von Bibiana Beglau, immer wieder. Nicht „sich“, nicht „die anderen“, nur allgemein. Der Vampir ist hier „alle anderen“, das Fremde und der schuldige Sündenbock für Katastrophen und Tod. In Analysen ist das Wesen der Nacht immer stellvertretend für alles, was nicht der Norm angehört. Dadurch ist der Vampir alles und zugleich nichts. Und genau diese Ambivalenz ist es, die ihn zum Hüter der Erinnerung macht. Die Gräueltaten werden vor allem mittels Videoprojektion vermittelt, aufgenommen und abgespeichert für die Erinnerung, wiedergegeben durch den Vampir.

(Spoiler)

Die Monologe erinnern in diesem Sinne auch bald an Zeugenberichte aus Nazi-Prozessen, und die Oberärztin wird zu einem Josef Mengele-Verschnitt. Das Böse wird im Anderen gesehen, jedoch ist es immer im Menschen selbst zu finden; und das wortwörtlich: Denn die zu Beginn angeteaserte „Häutung“ der Gräfin findet später auf beeindruckende Weise tatsächlich statt, wenn ein Vampir aus dem Körper einer anderen Figur schlüpft, sozusagen geboren wird. Man fühlt sich bei dieser Geburtsszene eindeutig an Ridley Scotts Alien erinnert, und auch die Vermutung liegt nahe, dass Jacobs Steven Moffats Dracula-Serie auf Netflix studiert hat.

Fazit

Nosferatu stellt Vampirismus und seine Konzepte um das Unbekannte und Lust in ein faszinierendes neues Tageslicht. Wer sich aber eine 1:1-Umsetzung des Dracula-/ Nosferatu-Stoffes erwartet, wird bitter enttäuscht werden, denn das Burgtheater bleibt seiner prätentiös-metaphorischen Schiene treu. Das Bühnenbild ist opulent minimalistisch und die Drehbühne ist ein wichtiger Bestandsteil der Desorientierung des Publikums. Vor allem der erste Akt und die „Geburtsszene“ sind schaurig schön und sorgen für massig Gänsehaut. Die Darsteller*innen-Riege ist durchwegs gut und überzeugend, nur leidet die Aufnahmefähigkeit des Publikums unter den konstanten Monologen. Etwas mehr „Show, don’t tell“ und Pragmatismus hätten gutgetan.


Anmerkungen:

Nosferatu: Der Deutsch-expressionistische Stummfilmklassiker Nosferatu: Symphonie des Grauens (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau ist ein Rip-Off von Bram Stokers Vampirroman „Dracula“. Murnau hatte nicht die Rechte zu dem Stoff, und plagiierte grundlegende Elemente der Geschichte. Es ist zwar die allererste Adaption von Dracula, dennoch mussten nach einem Gerichtsurteil alle Kopien des Filmes vernichtet werden. Zum Glück überdauerten einige Exemplare die Vernichtung. Bekam 1979 ein Remake von Werner Herzog. Ein weiteres Remake von Robert Eggers kommt 2024.

Wibbly-wobbly-timey-wimey: Eine Fan-Favourit-Phrase aus Doctor Who. Beschreibt komplizierte Chronologien oder temporale Anomalien. Zeit existiert nicht (nur) linear, sondern richtet sich in alle temproalen Richtungen aus.

Previous
Previous

Crème de la crème

Next
Next

Saltburn im Kreuzfeuer: Sammelkritik