Alles nur Geschmackssache?

Die Wiederentdeckung eines vergessenen Begriffs. Der Geschmack, ein Begriff, der aus dem Keller in die Ausstellungsräume gehört. Ein Begriff, der mehr ist als nur persönliche Meinung. Ein Blick auf den Geschmack als demokratisches Medium zwischen Komplexität und Uniformität.

© Bersarin

Wenn es um unseren Geschmack geht, dann hören wir sehr häufig den Satz: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ oder „das ist eben Geschmackssache“. Geschmacksfragen ordnen wir also schnell dem Bereich des Persönlichen zu. Was uns gefällt oder eben nicht gefällt steht dabei nicht zur Diskussion, es ist ja unser ganz persönlicher Geschmack. Das war aber nicht immer so, über den Geschmack ist schon viel diskutiert worden und dass wir genau das heute wieder mehr tun sollten, dass der Geschmacksbegriff ein demokratisierendes Potenzial hat, dass es auszuschöpfen gilt, das zeigt eine genauere Betrachtung des Begriffs. Geschmack ist mehr als nur ein ja oder nein, ein Daumen hoch oder runter, er ist komplex, dynamisch, vereint das Individuelle mit der Gemeinschaft, Geschmack ist Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich, Geschmack ist Medium und Erfahrung.

Komplexität vs. Uniformität

Wir befinden uns inmitten zweier entgegenstrebender Tendenzen. Auf der einen Seite erleben wir eine wachsende Pluralität an Handlungs- und Wirklichkeitsformen. Wir erleben eine Gesellschaft, die offener, dynamischer und flexibler wird. So werden beispielsweise die Grenzen von Pop- und Hochkultur, von Kunst und Nicht-Kunst durchlässiger, wir begegnen immer mehr Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten und lösen uns Stück für Stück von fest vorgeschriebenen Mustern. Auf der anderen Seite bewegen wir uns aber in für uns persönlich kuratierten Filterbubbles und das sowohl im realen Leben als auch bei der Nutzung von Social Media. Die Algorithmen von Instagram und TikTok sortieren die Inhalte nach unseren Interessen und so erreichen uns nur Informationen ganz nach unserem gusto. Kurz in Zeiten von Medienriesen passt sich unser Geschmack immer mehr an und verliert daher an Komplexität. Hinzu kommt, dass wir in der Nutzung der Medien immer schneller werden. Je schneller wir aber unser Geschmacksurteil fällen, desto kleiner wird der Erfahrungsraum und damit wird der Erfahrung die Komplexität genommen, die es braucht, um in einen konstruktiven und verständnisvollen Dialog treten zu können. Unser Geschmack polarisiert und zementiert sich, verliert seinen fluiden und offenen Charakter. Wir befinden uns im ständigen Bewertungsmodus und das Urteil erfolgt immer häufiger a priori. Das heißt unsere ästhetische Erfahrung, die (sinnliche) Wahrnehmung also, hat überhaupt keine Chance mehr und weicht dem Kurzschlussurteil, dem Vorurteil. Hinzu kommt, dass sich das ästhetische Werturteil, dann weder auf die ästhetische Erfahrung und schon gar nicht mehr auf das Objekt beziehen kann, sondern nur die bereits existierende Meinung reproduziert und markiert. Wir stehen also vor genau zwei Problemen. Erstens der Frage, wie wir zwischen der Tendenz von wachsender Komplexität und Uniformität vermitteln können und zweitens wie wir unsere Urteilsfindung verlangsamen. Kants Perspektive auf den Geschmack macht dahingehend einen interessanten Vorschlag.

Geschmack als Medium

Kants Kritik der Urteilskraft führt das Geschmacksurteil nicht auf die objektive Qualität der Dinge zurück, sondern auf die Strukturmerkmale der Erfahrung selbst. Die Überlegungen Kants kreisen um den Begriff der Zweckmäßigkeit. Schönheit ist eine Form der Zweckmäßigkeit und ein Gegenstand kann nur dann schön sein, wenn ihm eine bestimmte Zweckmäßigkeit zugrunde liegt. Zweckmäßig wiederum ist das schöne Objekt dann, wenn es das „freie Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes“ initiiert, worauf sich dann letztlich auch das ästhetische Urteil beruft. Mit anderen Worten: Ein Geschmacksurteil braucht Zeit und Kreativität. Würden wir uns also mehr Zeit mit unseren Urteilen nehmen, hätten wir die Möglichkeit, tatsächlich ein Geschmacksurteil zu fällen, anstatt am Vorurteil kleben zu bleiben. Wir hätten die Möglichkeit, ein Urteil zu fällen, das sich von unseren „Privatbedingungen“ löst und damit interessenlos ist. Wenn Kant dem Geschmacksurteil Interesselosigkeit voraussetzt, so meint er damit ein von „Privatbedingungen“ freies Urteilsvermögen, das eben dadurch, dass es sich vom Privaten löst, einen überindividuellen Charakter hat. Das Geschmacksurteil ist also auch für Kant nicht frei von nicht-rationalen Faktoren, die er hier als Gefühle der Lust oder Unlust bezeichnet und somit spielt auch bei ihm eine gewisse Subjektivität eine Rolle. Wenn sich, wie zuvor erwähnt, das ästhetische Werturteil jedoch nicht auf das Objekt bezieht, sondern vielmehr auf die sich in der ästhetischen Kontemplation vollziehenden Bewusstseinsprozesse, die dann positiv ausfallen, wenn sie lustvoll sind, lässt das Urteil mehr Schlüsse über die Betrachtenden als denn über das Betrachtete zu. Subjektivität ist hier in einem sehr viel allgemeineren Sinn zu verstehen. Oder: Der Geschmack verknüpft das Individuum mit der Gemeinschaft.

Damit zeigt sich natürlich, dass sich der Geschmack per se einer hierarchischen Organisation nicht entzieht, dass er als kulturelle Kategorie verstanden nicht bestimmte Geschmacksentwürfe über andere stellt und seine Repräsentation in der Elite findet. Wir können eine Aufspaltung der Geschmacksgemeinschaften beobachten, die sich immer mehr an zwei entgegengesetzten Polen zu orientieren scheinen und letztlich zu einem Werturteil führen, das Komplexität und Pluralität ausschließt. Was dann passiert ist, dass sich unser Geschmack uniformiert und radikalisiert. Wenn wir aber den Geschmacksbegriff vom Privaten trennen und uns wieder mehr dem Probieren, statt dem Urteilen zuwenden, der Erfahrung also von Differenzen, dann vermittelt der Geschmack zwischen den entgegenstrebenden Tendenzen von Uniformierung und wachsender Pluralität. Wir verstehen den Geschmack dann als etwas, das Hierarchien schafft, sie jedoch auch gleichzeitig wieder auflöst, das Geschmackgemeinschaften vereint und diese im selben Moment trennt, das Traditionen festigt, aber auch Neues schafft. Hier entfaltet der Geschmacksbegriff sein demokratisches Potenzial.

 Der demokratische Geschmack

Machen wir uns also bewusst, wie schnell wir urteilen, öffnen wir uns und legen Vorurteile ab, nehmen wir uns Zeit für die Erfahrung und machen wir dies individuell aber im Austausch, dann entfaltet sich das demokratische Potenzial des Geschmacks. Wir können dann ein Geschmacksurteil fällen, das durch seine Komplexität und Tiefe, der allgegenwärtigen Uniformierung, Unterdrückung und Einschleifung des Differenten, wie es der Philosoph Wolfgang Welsch beschreibt, etwas entgegenzusetzen hat. Wenn der Geschmack wieder den Wert bekommt, den er verdient, wenn wir uns auf ihn einlassen, uns von dem ständigen Bewertungs- und Anpassungszwang befreien, wenn wir also anstatt zu bewerten, betrachten, erfahren, innehalten und schmecken und den Menschen in unserer Umgebung dies ebenso zugestehen, dann kann sich ein Geschmack von Demokratie entfalten.

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