Von an- und abwesenden Körpern

“Wenn ich mir eine Stimme aussuchen kann, warum dann nicht gleich viele?” Zwei Geschwister veranstalten im Kosmos Theater ein Casting. Auf der Suche nach Sichtbarkeit finden sie neue Fragen.

(c) Heike Mondschein

Eine Schwester, die schreibt, und ein Bruder, der bald seine Stimme verlieren wird. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche: Nicht nach einer Stimme für den Bruder, sondern nach vielen. Das ist der Ausgangspunkt für das Stück Die vielen Stimmen meines Bruders im Kosmos Theater, in der Inszenierung von Marie Bues und Anouschka Trocker, entwickelt aus dem gleichnamigen Text von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster. 

Zwei Geschwister, die sich begegnen, miteinander sprechen und über sich und ihr Dasein in der Welt reflektieren. Der erste Blick fällt auf einen Sessel auf einer erhöhten Ebene. Eine  Barriere, nur zugänglich für die Schwester. Im Laufe des Stückes werden Rampen aufgebaut, so ganz nebenbei, aber mit einer großen Wirkung. Eine große Fotoleinwand mit galaktischem Farbmuster, die einerseits als Versteck dient, aber wenn Licht entsprechend darauf scheint, auch dahinter blicken lässt. Projektionen werden auf ihr festgehalten, Abwesende anwesend gemacht und Anwesende abwesend gemacht. 

„Ich bin einer von Dreien, die so sind wie ich.“ 

Was tun in einer Gesellschaft, in der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Hörbarkeit und Unhörbarkeit, Anwesenheit und Abwesenheit auf der Basis von Körpern und ihren Verfasstheiten vorbestimmt sind? Wenn mir der Zugang zu Orten und die gesellschaftliche Teilhabe unmöglich gemacht wird, „bei wem liegt da die Behinderung? Bei mir oder der Gesellschaft?“

Barrieren sind unsichtbar für diejenigen, die davon nicht behindert werden. Gerade im Theater, einem Ort des sichtbaren Machens, einem Ort des Anwesend-Seins, des Zeigens und Gesehen-Werdens, stellen sich insbesondere diese Fragen nach der Perspektive und wer sich wie auf der Bühne repräsentiert sieht. Wer darf sprechen, wem wird zugehört und welche Stimme bekommt die Möglichkeit, verstanden zu werden? Das Theater dient hier nicht nur als unsichtbares Behältnis für Diskurse, sondern als Schauplatz und Thematik für diese Fragen nach der Sichtbarkeit. 

“Eine Stimme, die außen so klingt wie ich innen”

Menschen mit Behinderung sollen meist zwei Rollen verkörpern, entweder die lustige oder die des Genies. Privileg, das bedeutet auch in einer Normvorstellung unsichtbar sein zu können.

Die Schauspielenden Lenard Grobien und Florentine Krafft, verhandeln diese Fragen zu Körpern und ihren (abwesenden) Privilegien auf eine sehr nahbare, verletzliche und authentische Weise, ohne dabei belehrend zu sein oder in schwermütigen Pathos zu verfallen. Eine klare und ehrliche Haltung sich selbst und einander gegenüber ist spürbar, auch in Bezug auf das Publikum. Dem Aussprechen von Unsicherheiten und dem Zustand des Nicht-Wissens wird Raum geben und dabei auf feinfühlige, lustige und berührende Weise miteinander in Beziehung getreten.

“Und, wie würdest du unsere Familie beschreiben?”

Im Vordergrund steht eine Beziehung zwischen Geschwistern, eine familiäre Verbindung, die gleichzeitig Nähe und Distanz bedeutet. Gleichzeitig auf Augenhöhe sein, aber auch Verantwortlichkeiten spüren, die ein Machtgefälle beinhalten. Wie sich zueinander verhalten in diesen vielen Ebenen der Beziehungen, die immer gleichzeitig stattfinden? Die Beziehung zwischen der Schwester und ihrem Bruder, die Rolle der Schwester als über den Bruder Schreibende, aber auch die Beziehung zwischen den Schauspielenden, der Autorin und ihrem Bruder. Sie alle waren im Raum spürbar, die körperlich Anwesenden, aber auch die Abwesenden, die durch ihre Geschichten, ihre Repräsentationen und (entkörperten) Stimmen sichtbar gemacht wurden.

“Wenn ich mir eine Stimme aussuchen kann, warum dann nicht gleich viele?”

Eine für jede Lebenslage? Eine für Montage, eine zum Streiten, eine zum Verführen. Die individuelle Klangfarbe, die jede Stimme inne hat, ist nicht synthetisch herstellbar. Deshalb wird ein Stimmen-Casting veranstaltet. Die Stimmen von Körpern, die nicht da sind, werden von abstrakten Gestalten, von Figuren der Schau- und Puppenspielerin Katharina Halus begleitet und körperlich lesbar gemacht. Dabei erzählen diese Stimmen Geschichten, als Praxis des sich und die Welt miteinander in Beziehung-Setzens. Als Medium des Dazwischen lassen sie Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen. 

Die vielen Stimmen meines Bruders ist ein sehr aktueller und wichtiger Beitrag in der zeitgenössischen Theaterlandschaft, sei es was die Themen, die verhandelt werden anbelangt, wie Anwesenheit, Abwesenheit, Repräsentation, Familie und Barrieren, aber auch die Inszenierung und Herangehensweise, ein Theater der Verletzlichkeit und der Nähe herzustellen. Es bleibt ein Gefühl, Menschen kennengelernt zu haben. Das Ende der Vorstellung, das finale Familienfoto, kommt abrupt und hinterlässt eine Note der Unabgeschlossenheit, die aber in sich doch wieder durchaus stimmig ist, denn genauso ist auch der Diskurs über dieses Thema nicht abgeschlossen und muss weitergehen!

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