Lass uns das bitte niemals vergessen

Eine packende Zeitreise, die Herz, Seele und Gewissen berührt: Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 zum 125. Geburtstag einer Wiener Lieblingsbühne.

Dark times in der Volksoper /// Barbara Pálffy, Volksoper (c)

Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938, so heißt das neue Stück, das zum 125. Geburtstag der Wiener Volksoper entstand. Die Geschichte entführt nicht in eine entfernte Welt mit exzentrischen Charakteren, sie entführt überhaupt nicht, sondern dreht nur die Zeit etwas zurück.

In den zweieinhalb Stunden Spielzeit bekommen wir einen Ausschnitt aus dem Leben in der Volksoper im Frühjahr 1938 zu sehen. Die Zuschauer*innen begleiten die Proben zu dem Stück Gruß und Kuss aus der Wachau, während das Leben in Österreich immer düsterer wird: Mit dem Einmarsch begann auch in Österreich der NS-Albtraum.

Es wird eine auf Wahrheiten basierende Geschichte des damaligen Ensembles & Vorstands gezeigt. Wie sie sich zuerst an die Widerstandsfähigkeit des Kanzlers Schuschnigg geklammert haben, nur um anschließend jede Hoffnung am Heimatland und dessen Gesellschaft zu verlieren. Schnell wird klar, wie viele Schicksale daran hängen und dass jedes einzelne unendlich grausam ist. Fast die halbe Besetzung war schließlich jüdischer Herkunft. Die Inszenierung scheut nicht davor zurück, die brutale Realität in die Hallen der Unterhaltung zu bringen.

Ermordung, Selbstmord, Ausschwitz – alles auch ohne Operngucker gut zu erkennen

Dieses Stück fährt nicht nur unter die Haut und ins Mark, es schleicht sich bis in die letzte Fingerspitze und lässt das Herz bitterschwer werden. Die Szenen erinnern an die Filme, die man im Geschichtsunterricht geschaut hat, nur diesmal ist man selbst Teil der Handlung. Das Stück nur zeitlich zu verschieben und nicht räumlich ist so beängstigend wie genial. Es gibt dem Ensemble die Möglichkeit, das Publikum direkt miteinzubeziehen und damit eine glaubwürdige Zeitreise zu erschaffen. Man ist überall dabei und fühlt sich eins mit den Erzählungen – dass der Kalender eigentlich 2023 schreibt, ist schnell verdrängt. Dabei wird abgewechselt zwischen dem geprobten Stück, welches eine lieblich heitere Stimmung verbreitet, den Geschehnissen bei den Proben und der Welt außerhalb der Volksoper.

Die brutale Realität klopft an der Tür /// Barbara Pálffy, Volksoper (c)

Es war nicht nur eine Erzählung aus der Geschichte der Volksoper, sondern auch eine Liebeserklärung an sie. An sie und die Kunst des Theaters. Beim Zuschauen wird einem immer mehr bewusst, dass der Saal, in dem man gerade sitzt, der Saal ist, in dem das Gezeigte auf der Bühne stattgefunden hat. Diese Tatsache betont, wie lange es die Volksoper schon gibt und was sie schon alles überstanden hat. Damit im Hinterkopf ist es beinahe magisch, dass die Institution und die Philosophie dahinter immer noch stehen: Mit Kunst zu verbinden und einen unterhaltenden Kontrast zur Realität schaffen. Aber die Volksoper ist auch gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Wo gegen sich damals gewehrt wurde, wird jetzt mit den richtigen Mitteln immer wieder umgesetzt: Stellung beziehen und auch mal politisch sein. Mit Liebe und Leidenschaft zum Theater lässt sich die Welt nicht nur retten, sondern auch ein bisschen besser machen.

Mit diesem Stück ehrt die heutige Belegschaft der Volksoper ihre Vorgänger*innen

Die, die in den guten Zeiten dem Volk das Leben versüßt haben, die, die in schlechten Zeiten geblieben sind und vor allem die, die gelitten, vertrieben und getötet wurden. Wenn Sie dieser Aufführung applaudieren, dann nicht nur für die Darstellerin*innen von heute, sondern auch für die vertriebenen Volksoper-Mitarbeiter*innen von damals, heißt es von Lotte de Beer (Direktorin der Volksoper) im Programmheft. Und jede*r einzelne hat für diese Menschen doppelt so laut applaudiert.

Normalerweise gehe ich in die Volksoper und sie spricht zu mir Lass uns die Welt vergessen. Aber diesmal legte sie mir nur ihr Herz aus der dunkelsten Stunde in die Hand und flüsterte: Lass uns das bitte niemals vergessen.

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