Kino-Rückblick ‘23

Wir waren im Kino - Erinnerungen, Liebgewonnenes, Ausblicke.

Illustration: Fabia Wirtz

Dominik Schwaab: Cade

25. August – Ich besuche meinen ersten und einzigen Gottesdienst des Jahres. Der schmierig-geniale Filmpriester Neil Breen lädt zu seiner neuesten audiovisuellen Zeremonie im Filmcasino. Was folgt, ist eine ekstatische Gottesbegegnung in den prall gefüllten Bänken vor der heiligen Leinwand. Cade: The Tortured Crossing heißt mein diesjähriges Kinohighlight. Breen, der sich vor allem durch sein Bizarro-Hackerdrama Fateful Findings einen Ruf als Tommy Wiseau der Nische erarbeitete, präsentiert hier ein mitreißendes Werk aus sich immer wiederholenden Handlungsbögen, tiefer Philosophie und furchterregenden Geheimnissen.

Das CGI-Spektakel ist eine Fortsetzung des Superhelden-Epos Twisted Pair. Der Film-Messias spielt wieder Cade, einen generös-romantischen KI-Cyborg (?), der diesmal eine heruntergekommene psychiatrische Einrichtung wiederaufbauen will. Er hat aber nicht mit denen da oben aus Politik und Wirtschaft gerechnet, die in ebendieser Einrichtung zwielichtige Genexperimente an den Patient*innen vornehmen. Und ausgerechnet Cades Zwilling Cale (Neil Breen mit angeklebtem Bart!) hilft ihnen dabei. Gottseidank hat unser Held jede erdenkliche übermenschliche Kraft, die sich im Kampf gegen das korrupte Establishment und den bösen Bruder als nützlich erweisen könnte!

Aus dieser brillanten Prämisse ergibt sich der wohl lustigste Film des Jahres. Das beständigeLachen im Filmcasino wurde nur vom regelmäßigen Szenenapplaus der begeisterten Jünger*innen unterbrochen. Doch auch trotz jeder Ironie zeigt sich hier ein vollkommen unabhängiger Künstler, der über eine beachtliche Filmografie zwischen hochsymbolischen Wüsten-Endzeitdramen und digitalen Moviemaker-Orgien seinen eigenen unverwechselbaren Stil gefunden hat und damit seit fast 20 Jahren ein weltweites Publikum begeistert. Fick Marvel. Wenn schon Greenscreen-Superheldenkino, dann auch mit Stockfotos. Halleluja!


Fabia Wirtz: The Five Devils

Ich liebe Filme, in denen Frauen einfach ein bisschen sonderlich sein dürfen. Dementsprechend ist The Five Devils (Les Cinq Diables) der Film, der mich 2023 am meisten begeistern konnte. Zärtlichkeit, Brüchigkeit der Kernfamilie, verpasste Chancen und Aufholen derer, Reizüberflutung und Paranoia, Stigma und Entstigmatisierung, Liebe, Reue, Herzschmerz, Freundschaft, Generationstrauma, Ausgrenzung und Kinship- alles präsentiert durch die überforderte Perspektive eines jungen Mädchens, was die Welt ein bisschen anders sieht. In dem Fall vielleicht eher riecht. Eine Ode an die Empathie, die Geister der Vergangenheit und das Akzeptieren von ambivalenten Gefühlen.


Tom Kauth: Asteroid City (im Augarten!)

Das Open Air Kino im Augarten ist mir ein heiliger Ort.

Das diesjährige Programm war noch dazu besonders gut kuratiert. Vielleicht ist es auch die Befangenheit des Ortes. Egal. Überzeugt euch nächstes Jahr einfach selbst davon!

Jedenfalls sah ich hier heuer zum zweiten Mal Wes Andersons Asteroid City. In einer warmen Sommernacht zischen diese 105 Minuten wie der Kronkorken eine 0,3er Cola. Genauso übersättigt. Genauso erfrischend. Genauso kitschig wie es kein vor Schweiß und eiskalten Tautropfen triefender Werbespot aus den 90ern besser hätte zeichnen können. Andersons neuster Langfilm ist nämlich genau (mehr als) das. Während der Werbespot versucht eine Realität abzubilden, inszeniert Asteroid City ein überdichtes Potpourri an US-amerikanischenVarianten dieser Abbilder selbst. Ein Zirkus der Zeichen ohne Rücksicht auf (Realitäts-)Verluste.

Und doch gibt es da diese eine Szene des wortwörtlich Außer-Irdischen. Kein Zeichen kommt uns plötzlich mehr bekannt vor. Ein Alien senkt sich aus dem nächtlichen Himmel auf Asteroid City herab und lässt alle gebannt-fragend nach oben schauen. Der Atem stockt in diesen meinen liebsten Kino-Sekunden des Jahres und Leinwand und Nachthimmel sind in dieser Wiener Sommernacht plötzlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden.


Linus Brandstätter: Kurz ins Kino

Es kommt mir vor, als wäre 2023 endlich das Jahr gewesen, in dem sich in der internationalen Filmindustrie geeinigt wurde, dass Filme von nun an nicht mehr unter die Grenze von zwei Stunden Laufzeit fallen dürfen.

Zu oft passiert es mir, dass ich im Kino eingenickt bin und mich im Nachhinein furchtbar über mich ärgern musste. Vielleicht ist gerade auch dass der Grund, weshalb eines für eines der wohl prägendsten Kinoerlebnisse heuer, ein kurzer 31-minütiger Besuch im Filmcasino in Wien war. Die dortigen Kinobetreiber:innen entschieden sich nämlich dafür, an einer Handvoll Terminen Pedro Almodóvars neuen Kurzfilm Strange Way of Life zu zeigen.

Almodóvars kurzer Western mit Ethan Hawke und Pedro Pascal in den Hauptrollen handelt von zwei ehemaligen Liebhabern, deren Wege sich nach einer gemeinsam verbrachten Zeit und vielen Jahren die seitdem vergangen sind wieder kreuzen. Weder zu kurz noch zu lang gestaltet sich der Film und schafft in seiner Laufzeit eine Handlung zu entfalten, welche am Ende die Zuschauer*innen ohne viele Fragen an ihren Sitzen zurück lässt. Dennoch wünscht man sich mehr, denn Strange Way of Life fühlt sich wie ein ganz besonderer Western an.

Doch spannend ins Kino zu gehen und es sich für eine halbe Stunde im Kinosessel bequem zu machen. Völlig losgelöst von Filmfestivals, wo Kurzfilme meist nacheinander und ohne Unterbrechung in einem Saal gezeigt werden, bot Strange Way of Life die Möglichkeit eines raschen Sprungs ins Kino, um dann gleich wieder seinem Alltag nachzugehen. Mögen 2024 mehr Kurzfilme Einzug in die Kinos finden!


Clarissa Donati: Kurz im Kino

2023 neigt sich dem Ende zu und somit auch das Jahr in dem drei Filme über Sebastian Kurz veröffentlicht wurden: Projekt Ballhausplatz, Kurz - Der Film und Sebastian Kurz - The Truth. Zugegeben habe ich es nur geschafft mir„Projekt Ballhausplatz anzuschauen. Dreimal 90 Minuten mit Sebastian Kurz zu verbringen, wäre dann doch ein bisschen zu viel des Guten. Projekt Ballhausplatz war der kritischste von den dreien, gelacht wurde im Kinosaal aber dennoch (weil Sebastian Kurz). Regisseur Kurt Langbein erzählt den Aufstieg und Fall des ehemaligen ÖVP-Politikers mit Hilfe von Archivmaterial und Interviews. In Zwischensequenzen lässt er  auch ein Auto, der selben Marke wie das Geilomobil, zerlegen (Das Auto das in der „Schwarz macht Geil“ Kampagne verwendet wurde). Ob er damit Kurzs‘ Karriere zerlegt hat? Wohl eher nicht. Geholfen hat der Film aber sicher, um das Projekt Ballhausplatz besser zu verstehen. So faszinierend Kurzs‘ Politikkarriere war, lässt es sich jedoch nun hoffen, dass man ihn 2024 nicht mehr auf Kinoleinwänden sehen wird. In den Medien sieht man ihn ja in letzter Zeit oft genug.


Anton Schroeder: Meer & Musik

Was bleibt und bleiben wird, sind vor allem Momente; einzelne Einstellungen und Bilder.

Die im Himmel aufploppenden Fallschirme in Human Flowers of Flesh, in dem Himmel und Meer verschmelzen, die Schirme öffen sich wie Quallen.

Das Meer auch in Albert Serras Pacifiction, das auf einmal alles glatt und wacklig macht, den Film, zuvor fiebrig-taumelnd, zum Beben bringt, ihn gleichzeitig öffnet, (kurzzeitig) in die Weite führt.

Nicht zuletzt auch musikalische Momente – in Fallende Blätter der Moment entstehender Liebe: in einer Karaoke-Bar singt ein Finne Schubert, der Film springt hin- und her zwischen dem Singenden und den Schauenden: eingefärbt vom Gesang vergucken sie sich ineinander - mehr als Musik und Blicke braucht es dabei nicht - Hoffnungsblicke, romantisch, gleichzeitig voller (geteilter) Einsamkeit.

Gar nicht so viel Musik in Music, aber wenn sie einsetzt, schmilzt der Film ähnlich, hebt ab. Duschen, eine Hand, die eine Maus in sich birgt und wieder entfliehen lässt, eine Tischtennis-Partie. Angela Schanelecs strenge Bilder, starre Posen, durch die Musik gesteigert - “Lasst die Felder frieren”.


Bernhard Mairitsch: Hollywood

Es war schön, letztjährige Highlights wie Everything everywhere all at once und RRR nochmals im Kino zu erleben. Aus Österreich kamen gute Horrorfilme wie Family Dinner und Heimsuchung, und zumindest die Komödie Griechenland lief erfolgreich.

Das größte Highlight war wohl „Barbenheimer“, ein Event-Double-Feature bestehend aus zwei völlig verschiedenen originellen Genrefilmen. Das gemeinschaftliche Kinoerlebnis wurde dadurch verstärkt. Auch wenn es höchstwahrscheinlich rachsüchtigen Beweggründen entstammt (Warner Bros wollte Nolan bei Universal den Erfolg nicht gönnen, und hat deshalb den Release von Barbie auf denselben Tag wie Oppenheimer gelegt), so haben beide Filme davon profitiert. Zudem wird bereits nach den nächsten Double-Feature-Phänomenen gesucht, zumindest in den USA kam es zu „Saw Patrol“.

Ein Highlight und verstecktes Gem ist wohl Godzilla Minus One, der 33. Toho-Godzilla-Film, der nicht nur der beste Godzilla-Film aller Zeiten ist, sondern auch ein großartiger Film generell. Andere Geheimtipps sind Dungeons & DragonsPearl, Cocaine Bear, Talk to Me, Joy Ride, Neue Geschichten vom Franz und Turtles: Mutant Mayham.

Interessant war es zu sehen, dass Hollywood-Nostalgie ihre Magie verloren hat: Filme wie Indiana Jones V, The Flash und Mission: Impossible 7 haben darauf vertraut, dass das Publikum mit der rosaroten Brille im Kino sitzen würde, und doch sind diese Filme gefloppt. Ob die richtigen Lektionen daraus gelernt wurden, ist fraglich. Denn auch Regisseure wie Scorsese und Scott sind keine Garanten für Erfolg mehr. Ebenso Superheldenfilme, vor allem aus dem Hause Marvel. Gerademal James Gunns Schwanenlied Guardians of the Galaxy 3 und der fantastische Animationsfilm Spider-Man Across the Spider-Verse liefen gut.

Dafür haben aber die Monate-andauernden Streiks die Industrie in Amerika erheblich behindert und lahmgelegt. Die Folgen werden die nächsten Jahre noch spürbar werden.

Es war ein spannendes und aufregendes Filmjahr. Ich bin gespannt, was 2024 bringen wird.

Bohema Bohemowski

A collective mind of Bohema magazine

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