Ein Leonard Cohen mit Uschanka?

Von sowjetischen Underground-Tapes über Dave Stewart bis zum Exil vor Putin: Ein Tauchgang ins Lebenswerk des legendären Boris Grebenchikov, meiner Nr. 1 bei Spotify Wrapped.

Was das für ein krasses Gefühl gewesen sein muss, irgendwo in einem Sowjetbau in Tscheljabinsk die Tür deines Zimmers abzuschließen, den illegal ergatterten Magnetofonband hervorzukramen und die abgefahrene Musik von Aquarium zu hören. Die Band von Boris Grebenchikov wurde durch solche selbstherausgegebene Magnitisdat-Alben berühmt, die im Untergrund verbreitet wurden. Geboren wurde Grebenchikov 1953 in Leningrad als Nachfahre von Überlebenden der NS-Blockade, schon mit 19 Jahren gründete er die Band Akvarium mit einem Kindheitsfreund. Alles, was nur ein wenig experimentell, alternativ oder spirituell war, stand in Breschnews Sowjetunion ganz oben auf der Verbotsliste, also tüftelten die Jungs zuhause an ihrer Musik.

Die band traf einen Nerv, sie wurde durch ihre Untergrundplatten und Wohnzimmerkonzerte so berühmt, dass sie 1980 zum legendären Tblisi Rock Festival eingeladen wurde. Dieses ‘russische Woodstock‘ war der erste und komplett missglückte Versuch der Obrigkeit, die florierende Underground-Rockbewegung als geordnete Sowjetunterhaltung zu missbrauchen. Akvarium war die größte Skandalnummer des Festivals: Die Jury verließ aus Protest den Saal, als Grebenchikov und seine Band obszöne Gesten machten, im Liegen spielten, Wein soffen. Eigentlich Business as usual bei einem Rockkonzert, in Tblisi reichte das, um in der Sowjetunion offiziell verboten zu werden und sich einen Namen als eine der führenden alternativen Bands der Sowjetunion zu machen.

Something completely different

In den nächsten Jahren half Grebenchikov bei Alben anderer Größen, wie die Bands Maschina Wremeni und Kino. Und er nahm in seinem homemade Studio auch mit Akvarium einige Alben auf und bastelte ziemlich erfolgreich an der eigenen Unsterblichkeit. Mit dem Song Gorod ist ihm das auch pretty much gelungen. Der nebulöse Text voller religiöser Symbole, die magische Atmosphäre der Musik, das war besonders in den grau-säkularen Sowjetzeiten etwas ganz besonderes und ist bis heute einer der größten Hits der Band. Man muss sich ein wenig einlassen auf diese Musik, wenn man aber in diese archaische Stimmung reingekommen ist, dann entschwebt man dem tristen Alltag in eine märchenhafte Welt. Give it a try.

Grebenchikov nutzte am Ende der 80-er die Freiheiten der Perestroika und versuchte, mit dem von Dave Stewart (der mit Sweet Dreams Are Made of This) koproduzierten Album Radio Silence im Westen durchzustarten. Not my cup of tea, sein Auftritt bei David Letterman ist eher wegen dem Interview sehenswert.

Aus dem Durchbruch im Westen wurde nichts, er kehrte also ins verrückte postsowjetische Russland der 90-er zurück. Akvarium löste sich zwar aus, die BG-Band, die er für sich gründete, nannte er aber bald in Akvarium um. 1980 heiratete Grebenchikov die Exfrau des Cellisten von Akvarium, ein Jahrzehnt später die Frau des Bassisten. Man könnte daraus schließen, dass die Band auch schon zuvor unter seinem Einfluss stand, mit allem Drum und Dran sozusagen... Aber lass uns bei der Musik bleiben. Sein russisch-folkloristisches Album aus 1993 und speziell der folgende Song ist einer der Hauptgründe, warum ich diesen Artikel für euch schreibe. Diese fließende Melancholie packt mich jedes Mal. Dich vielleicht auch?

Eigentlich habe ich euch aber etwas Cohenesques versprochen. Der frühe Leonard Cohen war zwar zweifelsohne auch alternativer, folkiger und weniger dunkel als der späte. Das hätten wir mit den bisherigen Grebenchikov-Songs abgedeckt. Wenn ich aber an Cohen denke, fällt mir eher die Stimmung von Songs wie You Want it Darker ein. Und auch die hat der späte Grebenchikov drauf. Und wie! Zum Beispiel im folgenden Song von seinem gefeierten Album Salt aus 2014.

Übersetzt heißt der Titel ‚Liebe in Zeiten von Krieg‘. Obwohl er ihn in Mexiko schrieb als der Krieg in der Ukraine noch nicht begonnen hatte, war der Song bei der Veröffentlichung 2014 plötzlich höchstaktuell. Grebenchikov veröffentlichte dieses Musikvideo, als Reaktion bekam er Morddrohungen vom rechten Mob auf Facebook. Auch die aktuelle russische Aggression verurteilt er. Er tritt nicht mehr in Russland auf und ist in seiner Heimat als ‚Foreign Agent‘ gelistet. Im Westen tourt er aber weiter.

Mein Wrapped-Hit

Zum aktuellen Zeitgeist würde als Abschlusssong wahrscheinlich Не Судьба, ein Song voller Schmerz und Depression passen. Ich möchte aber stattdessen mit meinem Lieblingssong von ihm schließen. Auch ein Spätwerk, aber eins, das mich jedes Mal zum Weinen bringt und trotzdem Hoffnung macht. Ich habe scheinbar ziemlich viel geheult dieses Jahr, jedenfalls landete dieses Lied auf Platz eins meiner Wrapped-Hitliste.

Boris Grebenchikov tritt am 19. Dezember im Wiener Gasometer auf, Tickets gibt es hier.

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