Because “Raw Matters” - Eine Bühne fürs Risiko

Raw Matters feierte das 100. Jubiläum seiner ungeschliffenen Tanz- und Performanceabende. Sofia wirft einen Blick hinter die Kulissen und befragt die kreativen Köpfe hinter der experimentellen Plattform.

(c) Barbara Mair /// Raw Matters /// Design von Lara Cortellini

Ein bunter Mix aus Clownerie, anmutigem Tanz, beeindruckender Akrobatik und interaktiven Mittanz-Formaten – oder sogar eine Show über die Powerpuff Girls. Bei Raw Matters ist für jede*n was dabei! Was nach einer chaotisch-vielfältigen Mischung klingt, feierte am 29. Januar sein 100. Jubiläum: Jeden Monat bekommen aufstrebende Künstler*innen und Tänzer*innen die Chance, ihre noch unfertigen Werke vor Publikum zu performen. Ein “ungeschliffener Abend”, der Platz zum Experimentieren bietet.

Safe Space

Während ich meinen Blick durch die Menge schweifen lasse, begegne ich einem bunten Mix aus lachenden Gesichtern aller Altersgruppen und Hintergründe. Ich spüre, dass dieser Ort nicht nur für mich einen Safe Space bietet. Der Abend entfaltet sich in sechs einzigartige Performances, jede mit ihrer eigenen, unverwechselbaren Note. Die Grenzen zwischen Publikum und Künstler*innen verschwimmen, beide verschmelzen als Einheit mit der Kunst. Und ich mit ihnen. Doch wer oder was verbirgt sich eigentlich hinter Raw Matters? Und überhaupt: Why does raw matter that much?

In unserem Interview gewähren die Gründerinnen Deborah Hazler und Nanina Kotlowski Einblicke in die Entstehung, die Entwicklung und die Philosophie von Raw Matters und erklären, warum es als Künstler*in wichtig ist, Risiken einzugehen und auch mal zu scheitern.

Hintergründe und Entstehungsgeschichte

Bohema: Wie ist ‚Raw Matters‘ entstanden?

Deborah: „Die Idee unfertige Performances vor Publikum zu zeigen war inspiriert von Performanceabenden, die ich in New York erlebt hatte bei Movement Research@Judson Church. 2009 haben Nanina und ich gemeinsam mit ein paar Freundinnen, die ebenfalls Tänzerinnen sind, den ersten Raw Matters gemacht.“

Nanina: „Ich bin damals direkt von einem Aufenthalt in Brasilien im Rahmen des Auslandstipendiums des BMKÖS zurück nach Wien gekommen und war inspiriert von den vielen Formaten für Tanz und Performance, die ich dort kennenlernen durfte, die hauptsächlich abseits von größeren Institutionen stattfanden.”

“Wir wollten mit Raw Matters einen Ort schaffen, an dem wir selbst entscheiden können, wie und was wir vor Publikum zeigen wollen, mit Freude und Neugierde am künstlerischen Schaffen.”

Deborah und Nanina haben sich während ihres Studiums für zeitgenössischen Tanz am Laban Center in London kennengelernt. Deborah entwickelte während ihres Masterstudiums eine Vorliebe für Feedback-Sessions, die ihre choreografischen Experimente bereicherten. Sie schätzt die gemeinsame Reflexion mit Gleichgesinnten, was sie persönlich als Künstlerin gestärkt hat und auch bei Raw Matters fördert. Den Prozess der Stückentwicklung empfindet sie sowohl als aufregend, oft allerdings auch als einsam. Sie betont die Notwendigkeit von Unterstützung durch andere. All dies wollen die beiden durch ihr Format ermöglichen:

Wir wollen einen Rahmen schaffen, in dem das Ausprobierte gelingen, aber auch scheitern kann“, betont Deborah: Und das Scheitern von einem Experiment ist im Idealfall Teil vom (Lern-)Prozess, ohne den ‚gute‘ Stücke nicht gemacht werden können.

Auswahl der Künstler*innen

B: Wer darf bei Raw Matters mitmachen?

D: „Prinzipiell darf sich jede Person bewerben, die sich als Künstler*in im Bereich Tanz/ Performance begreift, die eine neue Idee ausprobieren will und die in Österreich ihre Basis hat. Über die Jahre, in der unser Format wächst, und wir immer mehr Bewerbungen als Plätze haben, wird das geschriebene Konzept immer wichtiger. Wenn eine Arbeit schon gezeigt wurde, dann ist das für uns meistens ein Ausschlussgrund. Ausnahmen gibt es immer.“

N: „Genau, das geschriebene Konzept muss nicht perfekt sein. Uns ist es wichtig zu verstehen, ob es der Künstler*in wirklich darum geht etwas auszuprobieren oder ob eine fertige Arbeit nach einem Performance Ort bzw. einer Touring Station sucht. Dafür sind wir nicht der richtige Ort.“

Angst vor dem Scheitern

B: Ihr erwähnt die Wichtigkeit, sich der Angst vor dem Scheitern zu stellen. Wie beeinflusst diese Einstellung den kreativen Prozess? 

D: „Während Nervosität etwas ganz Normales ist, und eher Teil von Perfomancemachen ist, versuchen wir immer wieder zu erklären, dass es genau bei uns in Ordnung ist, sollte etwas schiefgehen. Das nimmt auf jeden Fall für die meisten ein wenig den Druck heraus.“

N: „Ich denke das „nicht perfekt sein zu müssen“ ist etwas, was wir alle immer wieder üben können. Das betrifft nicht nur die Künstler*innen, sondern auch das Publikum. Wir fragen uns immer wieder, wie wir es schaffen können, unseren Blick, aber auch den des Publikums so zu öffnen, dass wir neugierig und wertschätzend zusehen können.“

D: „Vielleicht ist es auch wichtig zu sagen, dass das Scheitern nie auf eine gesamte Arbeit zutrifft. Es gibt in jeder Arbeit Sachen, die gelingen, aber wenn wir uns die Teile anschauen, die nicht gelingen, und genau dort weiterarbeiten, dann können wir und unsere Arbeit weiter wachsen.“

Unterstützung und Ressourcen

Bis 2023 war Raw Matters Mitglied des Vereins Arbeitsplatz Wien, was entscheidend für die Entwicklung des Projekts war. Die Partnerschaft ermöglichte Proberäumlichkeiten und die Etablierung der Tender Steps Residenz. Seit diesem Jahr konzentriert sich Raw Matters allerdings mit einem ersten eigenen Studio vollständig auf das künstlerische Schaffen der Performer*innen, mit ausgedehnten Residenzen und somit längeren Probemöglichkeiten vor den Veranstaltungen. Während der Residenzen werden Peer-to-Peer-Feedback-Sitzungen angeboten, bei denen sich Künstler*innen kennenlernen und sich gegenseitig unterstützen können. Diese Treffen werden von verschiedenen Facilitators moderiert, die selbst Künstler*innen sind.

„In den letzten Jahren hat es politisch eine Entwicklung gegeben, in der Künstler*innen eine faire Entlohnung bekommen sollen. Das wirkt sich auch positiv auf uns aus.“, so Deborah. Im Gegensatz zu früher könne Raw Matters heute dank der erhaltenen Förderungen den Künstler*innen zumindest eine geringe Aufwandsentschädigung anbieten.

Szene und Trends

B: Wie nehmt ihr die aktuelle Performanceszene Wiens wahr? Welche Schwierigkeiten und welche Chancen gibt es?

D: „Es ist in letzter Zeit eine Schwierigkeit in der Performanceszene für mich als Künstlerin viel deutlicher geworden: ich habe keine Lust ein Jahr an etwas zu arbeiten, dass dann nur 2-4 Mal an einem der größeren Performancehäuser gezeigt wird. Und als Zuschauer*in ärgere ich mich, wenn ich nur ein Wochenende die Gelegenheit habe mir eine Arbeit, die ich spannend finden würde, anzusehen. Wenn ich genau dann keine Zeit habe, ist die Chance einfach vorbei. Da braucht es schon länger bessere Lösungen.“

B: Gibt es bestimmte Themen oder Trends, die in den Performances auffällig sind? Verfolgt ihr bei der Auswahl der Künstler*innen diese Trends?

D: „Ich glaube Raw Matters ist speziell, da wir bei unseren Performance-Abenden die Möglichkeit haben Künstler*innen abseits von Trends und aktuellen Themen zu unterstützen. Deswegen sind unsere Abende immer sehr vielfältig, da die Puppenspielerin, neben der Clownin, neben der hoch ausgebildeten oder autodidakten Tänzerin oder Zirkuskünstlerin Platz hat. Ich glaube, wir wollen nicht unbedingt trendig sein, sondern offen für die Vielfalt der Interessen und Bedürfnissen der so unterschiedlichen Künstler*innen.“

Zukunft der Performance

B: Was würdet ihr euch für die Zukunft der Performanceszene wünschen?

D: „Arbeitsverhältnisse, die es Künstlerinnen ermöglicht abseits von prekären Verhältnissen zu leben. Die, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die nächsten Monate oder Jahre überleben, Raum und Zeit haben etwas auszuprobieren. Eine gut vernetzte, sich unterstützende Szene…“

N: „Für viele, die neu zuschauen kommen, gibt es die Angst, Kunst nicht zu verstehen. Aber es kommt ein Verständnis durch Wiederholung, und sich einer Materie immer wieder auszusetzen. Es wäre wichtig, Kunst und Kultur schon in der allgemeinen Bildung fest verankert zu haben, damit sie auch für alle zugänglich sein kann, die außerhalb einer Elite ist, die sich das leisten kann. Raw Matters verlangt keinen Eintritt, sondern das Publikum spendet, was es kann. Auch so schaffen wir es, unsere Abende für alle erreichbar zu machen.“

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