“Erzähl mir eine Geschichte, und dann verzeihe ich dir”

Kindermörder sucht Mitfühlende. Eine teils unkoordinierte schwarze Komödie im Off-Theater für Ferdinand von Schirach Liebhaber*innen.

(c) Mirjam Koch

Alles nur Geschichte!

Anonymes Land, anonymes Kommissariat, weiß und leer wie ein verlassenes Krankenhaus: Zwei pausenlos aufgedrehte Polizisten verdächtigen den Schriftsteller Katurian (Boris Popovic) für den Inhalt seiner Kurzgeschichten, in denen Kinder kaltblütig umgebracht werden. Diese Morde werden in der Realität ausgeführt, doch von wem? Das Stück Der Kissenmann wurde vor dem Hintergrund des Irak-Kriegs geschrieben und findet heute im Lichte des „Krieges gegen die Kinder“, wie ihn Unicef Deutschland bezeichnet, in Gaza eine Resonanz. Katurian ist ein nervöser nobody, wie er selbst vorspielen will, ein bloßer Geschichtenerzähler, der „nichts gegen niemanden hat. Muss Kunst immer für etwas stehen? Mit seinen Geschichten möchte Katurian „überhaupt nichts sagen“, dadurch umgeht er scheinbar seine Verantwortung für die Kindermorde. Dies zumindest, bis er seinen Bruder Michal (Sebastian Pass) im Nebenzimmer schreien hört. Auch er soll prozesslos hingerichtet werden. An die schlichten, rätselhaften und finsteren Krimis von Ferdinand von Schirach erinnernd, wird im Stück eher vieles entmystifiziert; kaum ein Rätsel bleibt ungelöst.

Ein Krimi als Pausenbrot

2003 im National Theatre of London feierte das Stück The Pillowman seine Premiere. Martin McDonaghs schwarze Komödie, im Off Theater von Benjamin Plautz inszeniert, ist ein theatralisches Raumschiff, doch seine Besatzung scheint nicht genau zu wissen, wozu alle Knöpfe dienen, und so fallen wichtige Wendepunkte und Charaktereigenschaften flach. Zwischen den vielen Meta-Ebenen von Fiktion und Realität, den Fragen danach, was jetzt tatsächlich passiert ist, oder eine reine Wahnvorstellung war, laufen die Spiel-Intentionen oft nicht in die gleiche Richtung. Unklarheit scheint auf beiden Seiten der Rampe zu herrschen. Es fehlt an Rhythmus, Handlungslinien prallen aufeinander. Trotz 2,5 Stunden Aufführung fehlt Zeit. Enigmen werden vorgezeichnet, doch alles mysteriöse rasch weggewischt. Wer sich eine komplexe Detektivsuche erhofft, könnte enttäuscht sein.

Das Makabre kitzelt erst die Inszenierung, schwingt dann um in Lachen, und wird still. In diesem Hin und Her zwischen Realität und Fiktion, bis keine Unterscheidung mehr möglich ist, stürzen rasch alle Fragen nach Anständigkeit ab. Denn die Gewalt der einen (der Polizisten) scheint die Gewalt der anderen (der Verhafteten) herauszufordern. Hier ist das Menschenleben wenig wert, denn man stirbt schnell, und man stirbt oft, doch Katurian fleht: „Wenigstens, meine Geschichten retten!“ Sollten wir den Künstler vom Mörder unterscheiden, oder sollten beide hingerichtet werden? In unseren demokratischen Ländern entkommen beide – schuldige Verbrecher, die auch Künstler sind, wie Harvey Weinstein oder Roman Polanski – ihrem hart erarbeiteten Urteil.

Eine gerechte Rache?

Der Druck auf die zwei Angeklagten steigt. Plötzlich schwimmen alle vor Panik in eiskaltem Wasser, wo alles nur um sich tritt, um an der Oberfläche zu bleiben. Jeder ist an etwas Schuld – insoweit wurde das Rad nicht neu erfunden. Ein Racheschwur gebärt den nächsten, aber kann eine Absicht einen Mord rechtfertigen? Gibt es so etwas wie die gerechte Rache? Wie Peter Brook in The Power of Story schreibt, gehört heute die Macht dem*r besten Geschichtenerzähler*in. Nicht die Taten leiten, sondern das Wort. Im Informationszeitalter haben Diskurse die Macht, und was sind Diskurse, wenn nicht Geschichten? Eine Fiktion versucht die andere zu übertreffen.

Strenge, zwiespältige Moral entblößt sich im Kissenmann als veraltet, steif, nutzlos und fern, sie kann nichts mehr für uns tun. Da bleibt nur noch der eigene Sinn für Gerechtigkeit, den sich vielleicht jede*r in seinem*ihrem Inneren aufrechterhält. Hier sind alle Opfer, bevor sie Henker sind, kaum geht es mehr um Unschuld, sondern vielmehr um die Hierarchie des Leidens und den zerstörerischen Versuch, weniger zu leiden. “Alle können ihre beschissene Kindheit als Ausrede nutzen” schießt es aus dem Polizisten Ariel. In seiner Kindheit von seinem Vater missbraucht, trägt er die Gewalt mit sich wie ein Erbe. Die maßlose Grausamkeit der Inszenierung wirkt aber unangenehm grotesk. Man wünscht sich mehr Feinheiten im Spiel, weniger leidenschaftliches Geschrei und dafür besser gezielte Kraftausdrücke und Vielfältigkeit der Emotionen. Das allgegenwärtige, kaum kathartische Austoben verhindert wahre Steigerung und Spannung. Auch diskriminierende Darstellungen stechen wie gravierende Fehler aus dem unterhaltsamen Abend heraus: Das abgenutzte Stereotyp des geisteskranken Bruders, der sich als Psychopath offenbart, und eine krass rassistische Imitation eines chinesischen Mannes vom Polizisten Tupolsky (Rafael Schuchter).

Mitleid für den Mörder

Von einem zynischen whodunit („Wer hat es getan?“) rutscht das Stück in ein märchenhaftes Labyrinth à la Shakespeare, wo ein kleines grünes Schweinchen, eine Jesus-Reinkarnation im Körper eines kleinen Mädchens und andere fabelhafte Wesen aus den Büchern in die reale Welt fallen. Bald müssen wir alle Hoffnung aufgeben, nach dem Mistkerl zu suchen, und hoffen viel mehr, dass uns von allen Mistkerlen einer leid tut. Eine große Frage für den kleinen Off Theater Saal. Der Kissenmann wartet an der Ecke auf uns, im verrückten Lächeln die Frage hängend: Für welchen Mord stehst du? Und für etwas muss man ja schließlich stehen.

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A Conversation with: Jatla Siddartha